KULTURTHEORIEKULTURKRITIK |
KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE |
Watsuji, Tetsurô. 1997. Fûdo - Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schlagwörter: Japandiskurs, Klimatologie, Kulturtheorie, Kulturvergleich, Kulturkritik, Hermeneutik, Antropologie, Ästhetik, Locozentrismus Abstract: Watsuji Tetsurôs (1889-1960) als "Ethik" proklamierte klimatologische Studie Fûdo (Vorlesungsmanuskript 1928/29, Buchveröffentlichung 1935) besteht aus 5 Kapiteln. Das einleitende enthält eine auf der Grundlage von Husserls Konzept der Intentionalität sowie Heideggers Sein und Zeit konzipierte Grundtheorie über fûdo (Klima), die, sich strikt von jeglichem geographischem Determinismus distanzierend, das Klima als philosophisches Problem darzustellen versucht. Das 2. Kapitel beinhaltet die Analyse der drei Klimatypen, die Watsuji infolge empirischer Beobachtungen während eines längeren Europa-Aufenthaltes sowie Reisen nach Indien, in die Südsee und den Nahen Osten unterscheidet. Mit dem in Indien, der Südsee und im ostasiatischen Küstenbereich einschließlich Chinas und Japans vorzufindenden Monsunklima verbindet der Autor zunächst generell Eigenschaften wie Passivität, Resignation und eine kontemplativ-emotionelle Lebensweise; eine Weiterdifferenzierung wird im 3. Kapitel vorgenommen. Das Wüstenklima bewirkt eine praxisorientierte Lebensweise, Widerstand, Kampfgeist und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit dem europäischen Wiesenklima verbindet Watsuji als allgemeine Charakteristika Antropozentrismus und Rationalität, wobei in Anlehnung an Spenglers Unterscheidung zwischen apollinischer und faustischer Natur weiter differenziert wird: Beschaulichkeit im Süden, technischer Fortschritt und Prädilektion zur Kriegsführung im Norden. Das 3. Kapitel behandelt besondere Formen des Monsunsklimas und widmet sich gezielt der Untersuchung Chinas und Japans. Aufgrund klimatischer Bedingungen spricht der Autor dem Chinesen ausgeprägtes Geschichts- und Traditionsbewusstsein sowie den (in Anbetracht der im 2. Kapitel als monsuntypisch proklamierten Emotionalität überraschenden) Verzicht auf Gefühlsregungen. Den so erschaffenen Kontext nützt Watsuji zur Hervorhebung der Singularität Japans: wesentliche Komponente der hier dominanten empfänglich-resignativen Haltung ist die charakteristische, auf Japan beschränkte Entschlossenheit aus Verzweiflung (yake). Die Einzigartigkeit Japans - vom Verfasser "das Merkwürdige" (mezurashisa) genannt - wird schließlich in einem Subkapitel detaillierter behandelt. Nach einigen Ausführungen bezüglich der durch Auslandsaufenthalt veränderten Perspektive auf die japanische Wirklichkeit beschreibt Watsuji Eigentümlichkeiten der japanischen Stadtplanung sowie Bauweise und erschliesst aus den architektonischen Merkmalen des japanischen Hauses (nach außen hin abgeschlossen, offen im Inneren und somit eine strikte Trennung zwischen Haus und Welt bewirkend) Charakteristika des japanischen Verhaltens: bedingungslose Liebe und Opferbereitschaft gegenüber der Familie einerseits, mangelndes gesellschaftliches Engagement andererseits. Das 4. Kapitel untersucht den klimabedingten Charakter der Kunst. Eingeleitet wird es von einigen theoretischen Überlegungen hinsichtlich der zwei laut Watsuji relevanten Faktoren "Zeit" und "Ort" und seiner Forderung nach Betonung der lokalen Verschiedenheiten als Ausdruck der Ortsgebundenheit, deren Vernachlässigung - selbst in Zeiten des "Zusammenschmelzens der Orte" (S. 152) - das Kunstwerk zum blossen Transplantat degradiert. Berührt werden an dieser Stelle auch die (damals wie heute aktuelle) Problematik der Übertragung europäischer Kunsttheorien auf außereuropäische (östliche) Kunst, des Eurozentrismus trotz Liebe zum Nicht-Europäischen sowie die Schwierigkeiten bezüglich einer angemessenen Definition des Ostens. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen westliche und japanische Kunst, idealtypisch durch klassische griechische Plastik resp. Gartenkunst repräsentiert. Den klimabedingten Charkter macht Watsuji schließlich als Ausdruck des Logischen im sinnlichen Bereich resp. Sublimierung und Idealisierung des Naturschönen aus; als Mechanisierung kritisiert und dem Japanischen diametral entgegengestellt wird die Aufgreifung des griechischen Elements durch die Römer und schliesslich die Renaissance. Das abschliessende Kapitel bietet einen kritischen Überblick über Klimatologie von den antiken Anfängen (Hippokrates) bis zu Watsujis Gegenwart (Vidal de la Blanche); besonders berücksichtigt werden Herders Klimatologie des menschlichen Geistes und Hegels Philosophie des Klima. Kommentar: Die nach der Öffnung des Landes (1853) einsetzende, äußerst dynamisch betriebene Modernisierung Japans wird vom Typus des sog. Japandiskurses begleitet, der zur Klärung des Verhältnisses zum wissenschaftlich-technisch überlegenen Westen eine zweifache Differenz thematisiert: gegenüber der abendländischen Kultur sowie der traditionellen japanischen Kultur selbst. Zur Erstellung einer Selbsthermeneutik bedient sich der seiner Bestimmung nach interkulturell angelegte Japandiskurs (Heise) der wissenschaftlichen Traditionen und theoretischen Mittel des Westens, weist jedoch gleichzeitig die Tendenz auf, die theoriegeleitete Selbstinterpretation für spezifisch westlich und die japanische Kultur für singulär, diskursiv unzugänglich zu erklären und sie der wissenschaftlichen Untersuchung zu entziehen. Der Philosoph Watsuji Tetsurô befasste sich in zahlreichen Studien zur Kultur- und Geistesgeschichte mit den Ausdrücken japanischer Subjektivität, wobei Fudô die vier Pfeiler seines Denkens (Klimatologie, Ethik, Geistesgeschichte, Kulturkritik) in Ansätzen beinhaltet und die theoretische Grundlage seines Programms bildet (Liederbach). Es verbindet ontologische und kulturelle Analyse, deren gemeinsamen Grund das als intentionale Struktur verstandene Klima darstellt, und kann nicht unabhängig von einer intensiven Husserl- und Heidegger-Rezeption betrachtet werden. Von Anfang an distanziert sich Watsuji von der Vergegenständlichung des Klimas als Vorgehensweise der Naturwissenschaften und sucht einen neuen, philosophisch begründeten Zugang zur Natur. Um eine solche Vergegenständlichung zu vermeiden, deutet der Verfasser im Rahmen von Husserls Phänomenologie das Klima als intentionales Erlebnis und definiert das Verhältnis des Menschen zu diesem als "Hinaustreten" /"Hinausstehehen" , wobei dieser Begriff zunächst keine zufrieden stellende Klärung erfährt. Dies bringt Watsuji - vor allem seitens Berque - den Vorwurf des geographischen Determinismus ein, den es gerade zu vermeiden galt. Um diesen zu entkräften, wendet sich der Autor in der Fassung von 1935 von Husserls Konzept der Intentionalität des Bewusstseins weitgehend ab und nähert sich Heideggers Analytik des Daseins, was eine eindeutigere begriffliche Klärung sowohl des Klimas als auch des Hinausstehens ermöglicht. In Hinwendung an Heideggers in-der-Welt-seins erfolgt die Einführung der Termini ningen (Mensch des Zwischens) und aidagara (Zwischensein), mittels derer die Erfassung des Menschen in seiner doppelten Natur als Individuum und gemeinschaftliches Wesen (an dieser Stelle kommen die ostasiatischen Traditionen, besonders diejenigen des Buddhismus und Konfuzianismus zum Tragen, die Watsuji der westlichen Vernachlässigung der Sozialität entgegenstellt) sowie die Vergeschichtlichung des Klimas und ihr Verständnis als Ort, an dem sich der Mensch selbst entdeckt, begreift und dieses Begreifen tradiert wird - kurzum als Lebenswelt - erreicht werden. Die Tradition des klimatischen Selbstverständnisses äußert sich in Formen der Gemeinschaftsbildung, Bewusstseinsformen, Produktionsformen - hiermit verleibt der Verfasser der Klimatologie eine Kulturtheorie ein, die die Differenzierung der Kulturen aufgrund der Selbstunterscheidung der Natur in verschiedenen Klimata vornimmt (Heise). Trotz aller Bemühung bleiben in Fudô - neben dem nationalen Tenor - einige theoretische Schwächen enthalten; hinzu kommt an mancher Stelle ein offensichtlich unzureichendes faktisches Wissen und irreführende Verallgemeinerungen - der gegenüber Watsuji seitens seiner Kollegen geäußerte Vorwurf eines gewissen Diletantismus wird hier, wenn nicht bestätigt, so doch erhärtet. Irritierend wirkt auch der vom japanischen Kontext häufig nicht zu trennende, streckenweise vorherrschende deskriptive Ton. Dennoch gelingt Watsuji mit dieser Studie sowohl die japanische Kultur philosophisch zugänglich zu machen als auch eine Fremdhermeneutik zu erstellen, einen Spiegel, in dem man sich wieder erkennt, wenn auch karikaturistisch verzerrt Literaturhinweise: Berque, Augustin: Identification of the Self in Relation to the Enviroment, in: Rosenberger, Nancy Ross (Hg.): Japanese Sense of Self, Cambridge: UP 1992, S. 93-104. Heise, Jens: Nihonron: Materialien zur Kulturhermeneutik, in: Menzel,Ulrich (Hg): Im Schatten des Siegers: Japan. Bd.1: Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1989, S. 77-96. Liederbach, Hans Peter: Zur Entstehungsgeschichte von Watsuji Testurôs Fudô. Die Veränderungen des Klimabegriffs von der Erstveröffentlichung 1929 bis zur Buchfassung 1935, in: NOAG 167-170 (2000-2001), 159-179. (D.L.).
|