Haug,
Walter. 1999. "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?".
Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 69-93.
Kommentar:
"Die Literaturwissenschaft hat in einem Maße Probleme mit ihrem
Selbst-verständnis, wie dies für kein anderes Fach zuzutreffen
scheint" lautet die phrase d'accès dieser skeptisch-kritischen
Auseinandersetzung des Tübinger Mediävisten mit dem jüngsten
Paradigma der Literaturwissenschaften: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft
- ein Paradigma, das sich, so Haug, nahtlos an die "Als'-Metamorphosen"
anschließt, zu denen die Literaturwissenschaftler "geradezu
periodisch" ihr Fach "umetikettiert" haben, als da wären:
"Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte, Literaturwissenschaft
als Sozialgeschichte, Literaturwissenschaft als Psychoanalyse, Literaturwissenschaft
als Ideologiegeschichte, Literaturwissenschaft als Mentalitätengeschichte".
Den neuesten "Trend" nimmt Haug nun zum Anlaß zu fragen,
warum "Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein"
darf, d.h. eine Wissenschaft, "die eine ihrem Gegenstand, der Literatur,
entsprechende Methode des Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und
zur Anwendung zu bringen vermag" (69).
Er bringt für das "Defizit an Selbstbewußtsein" drei
"Dilemmata" in Anschlag. (Dabei ließe sich das defensive
Wort "Dilemma", das den Diskutanten von vornherein ins Unrecht
setzt, ohne weiteres durch die sachlich-optimistische Fügung "dialektische
Spannung" oder "dialektischer Prozeß" ersetzen.)
Deren erstes besteht darin, daß der Literarhistoriker seiner Aufgabe,
Literaturgeschichte zu betreiben, letztlich nicht gerecht werden kann,
da er vornehmlich mit Werken der sogenannten Höhenkammliteratur'
befaßt ist, die sich geschichtlich nicht verrechnen lassen. Das
zweite Dilemma ist eine Folge der strukturalistischen Wende mit ihrer
Bevorzugung der Synchronie gegenüber der Diachronie und dem damit
zusammenhängenden Verständnis von Literatur als einem System,
das von anderen literarischen und außerliterarischen Systemen umgeben
ist. Es stellt sich die Frage, ob das literarische System als Subsystem
im kulturellen Gesamtsystem integriert und somit funktional ist, oder
ob es sich als Paralleluniversum' in (relativer) Autonomie zu diesem
verhält, und wenn ja, welche Funktion es damit erfüllt. Haug
stimmt zu, daß Literatur mit Nichtliteratur interagiert, warnt aber
davor, ihr mit Methoden beikommen zu wollen, die nicht spezifisch literaturwissenschaftlich
sind und sie letzlich ihrer Eigenart zu berauben drohen (69-70). Den grundsätzlichen
Nutzen fachfremder Verfahrensweisen für die Literaturwissenschaft
streitet er indes nicht ab. Das dritte Dilemma hängt mit der "Standpunktgebundenheit
der eigenen Interpretation und damit [...] ihrer Überholbarkeit"
(71) zusammen. Denn es gehört zur Kondition des Historikers, gleichviel
mit welcher Art historischer Fakten er befaßt ist, Geschichte nur
vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachten zu können, mit der Folge,
daß die zwangsläufig verzerrende Perspektive auf das geschichtliche
Objekt jeweils nur subjektive Wahrheiten' zu befördern vermag.
Zu diesem "hermeneutischen Zwiespalt" freilich, so Haug, muß
sich die Literaturwissenschaft bekennen, will sie sich nicht "auf
einen bloßen Faktenpositivismus zurückziehen und auf Interpretation
verzichten" (71).
Nach diesen einführenden Bemerkungen zur schwachen Position der Literaturwissenschaft
wendet sich Haug dem eigentlichen Thema seiner Einlassung zu, nämlich
inwiefern die Integration der "in Mißkredit geratenen Geisteswissenschaften
in eine übergreifende Kulturwissenschaft" zu einem "zukunftsträchtigen
Selbstverständnis" der ersteren beitragen kann. Dabei, so Haug,
müsse aber zunächst geklärt werden, was hier überhaupt
unter Kulturwissenschaft zu verstehen sei, denn "von der Sache und
der Methode her läßt sich sehr Verschiedenes darunter begreifen"
(73). Im folgenden zeichnet er den Weg nach, der zum "kulturhistorischen
Konzept" führte. Angefangen bei den Neukantianern Heinrich Rickert
(1863-1936) und Wilhelm Windelband (1848-1915), die den ihrer Ansicht
nach zu eng gefaßten Diltheyschen Begriff "Geisteswissenschaft"
(vs. "Naturwissenschaft") - unter gleichzeitiger Wahrung seines
Geltungsbereichs - durch den Neologismus "Kulturwissen-schaft"
ersetzt sehen wollten, führt Haugs Rundgang zu den Stationen Allegorese,
Annales-Schule (Nouvelle Histoire, Mentalitätsgeschichte), historische
Anthropologie und New Historicism. Er verweist dabei auf die zentrale
Bedeutung der Literatur(wissenschaft) für die jeweilige Herangehensweise.
So heißt es in bezug auf die Nouvelle Histoire': "Grundsätzlich
gilt: die Vermittlung läuft immer - wenn man einmal von rein archäologischen
Daten absieht - über die Schrift" (79). Die Darstellung der
Geertzschen Methode der "Dichten Beschreibung" schließt
mit dem Satz: "So nähert sich denn die ethnologische Analyse
in verblüffender Weise der Interpretation eines literarischen Textes
an. Eine Kultur wird gewissermaßen als eine Textmontage angesehen
[...]" (81).
Der Kulturbegriff Geertz', fährt Haug fort, hebe dabei nicht auf
"psychologische Phänomene" ab, sondern auf "einen
Kontext von Zeichen, der aus seinem eigenen System heraus interpretiert
werden" muß (82). Da aber Interpretation unabwendbar - wie
eingangs dargelegt - die hermeneutischen Geister' auf den Plan ruft
(Stichwort "Standpunktgebundenheit" und "Überholbarkeit"),
kann Haug feststellen: "Die Kulturwissenschaft Geertzscher Prägung
präsentiert sich als eine Art erweiterter Literaturwissenschaft,
und sie handelt sich damit all jene Probleme ein, mit denen wir Literaturwissenschaftler
zu kämpfen haben" (82). Die Attraktivität, die die unter
dem Signum der semiotischen Wende arbeitenden Kulturwissenschaften für
Literaturwissenschaftler gleichwohl besitzen, sei es die ethnologische
Kulturwissenschaft eines Clifford Geertz, sei es der - als Ergebnis der
"Liaison zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft" beschriebene
(83) - New Historicism eines Stephen Greenblatt, führt Haug auf die
Tatsache zurück, daß beide Methoden die notorischen Dilemmata
der Literaturwissenschaft auszuschalten vermögen. Nicht nur läßt
das als "Produkt der jeweiligen kulturellen Situation" verstandene
Werk seine Qualität als "kreative Leistung eines bestimmten
Autors" in den Hintergrund treten, womit auch das Problem der geschichtlichen
Verrechenbarkeit des aus der Geschichte Gefallenen' erledigt wäre;
auch die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie
stellt sich nicht, "denn die Literatur besitzt keinen privilegierten
Status mehr." Schließlich: die "prekäre Relativität
des interpretierenden Zugriffs hat sich in postmoderne Unverbindlichkeit
verwandelt, die Unsicherheit der Deutung ist zu einer fröhlichen
Tugend geworden." Seine letztendliche Weigerung, dem Banner des New
Historicism zu folgen, begründet Haug damit, daß ein zu hoher
Preis daran geknüpft wäre: "Es ist der Verzicht auf Geschichte,
der Verzicht auf das individuelle Werk eines individuellen Autors, der
Verzicht auf die Literatur als ein System eigener Art und schließlich
der Verzicht auf eine durch das hermeneutische Risiko hindurch wenigstens
potentiell in den Blick tretende Wahrheit" (85).
Fragt sich nun, wie der Entwurf einer Literaturwissenschaft, die sich,
gleich den Kulturwissenschaften, "von globalen historischen Modellen"
(86) abgewendet hat, aussehen kann. Haugs Vorschlag ist folgender: "Es
sollte nicht mehr vorrangig um die Frage nach irgendwelchen Gesetzlichkeiten
im Spiel dessen gehen, was literarhistorisch konstant bleibt und was sich
wandelt, das Hauptinteresse sollte vielmehr der Konstanz eines literarischen
Konzepts als einer Leistung gelten, einer Leistung, die dem Inkonstanten,
Gegenläufigen abgerungen ist und die diesen Prozeß noch zeichenhaft
in sich trägt, oder schärfer gesagt: es geht um Entwürfe,
die sich als literarische Konstrukte im Querfeld außer- und gegenliterarischer
Erfahrungen nur halten, um sich in Frage zu stellen; die lebendig-gespannte
Konstanz des Dichterischen im Spannungsfeld seines Wirklichkeitszusammenhangs
soll den Vorrang haben vor dem bloßen Aufweis von thematischer und
formaler Konventionalität, die zur Veränderung drängt"
(86-87). Auf das literaturwissenschaftliche Interpretieren gemünzt
heißt dies, "daß man [...] methodisch konsequent auf
das zu achten hat, was in einer Erzählung nicht aufgeht, denn der
Sinn liegt [...] letztlich in den Aporien" (89). Damit wendet sich
Haug gegen "harmonisierende Deutungsversuche" (92) und führt
auch gleich aus seinem Spezialgebiet, der mittelalterlichen Literatur,
einige Beispiele dafür an (Chrétien de Troyes, Erec, Wolfram
von Eschenbach, Parzival und Willehalm, Gottfried von Straßburg,
Tristan, Wernher der Gartenaere, Helmbrecht) wie ein solches auf Dissonanzen
abgestelltes Interpretieren aussehen kann. (M.R.)