KULTURTHEORIEKULTURKRITIK
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KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE

Vollhardt, Friedrich. 2001. "Kittlers Leere. Kulturwissenschaft als Entertainment". Merkur, 55/8, 711-716.

Kommentar: In seiner - wie der Titel bereits anzeigt - polemischen Besprechung des 2000 erschienenen Sammelbandes Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft (München: Fink), der eine an der Berliner Humboldt-Universität gehaltene Vorlesungsreihe Friedrich Kittlers zur Einführung in die Kulturwissenschaft dokumentiert, übt Vollhardt scharfe Kritik an dieser, nach Kittlers eigenen Worten, "unbegründbaren" (zitiert 716) Disziplin, die sich in ihrer Berliner Ausprägung s.E. darin erschöpft, "ohne die Last philologischer Ansprüche und ungestört von kritischen Einsprüchen oder dem kontrollierenden Blick von Kollegen über ‚heilige Texte' [nachzudenken] und in aller Ruhe das Rad neu [zu] erfinden" (716).
Kittlers Vorlesungen widmen sich Vico, Herder, Hegel, Nietzsche, Freud und Heidegger, die als Gewährsmänner der neuen Wissenschaft vorgestellt werden, was Vollhardt zu der süffisanten Bemerkung veranlaßt, bislang habe man "die genannten Autoren in anderen disziplinären Bezirken gesucht" (713). Er greift sich v.a. das Vico-Kapitel heraus, um Kittler unseriöses Arbeiten nachzuweisen. Dieser zitiere den Philosophen nämlich nicht im Original und unter Zuhilfenahme einer verläßlichen deutschen Übersetzung, sondern ausgerechnet "nach der schmalen Auswahl-Übersetzung von Erich Auerbach aus den zwanziger Jahren" - einer Übertragung "nicht [...] ins Deutsche, sondern ins Deutsch-Philosophische des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts" (714) - die nach Ansicht Jürgen Trabants lange "das Haupthindernis zum Zugang zu Vico in Deutschland" war (714). Darüber hinaus vermißt Vollhardt die Einbeziehung neuerer Interpretationen sowie die Berücksichtigung der Ergebnisse der Quellenforschung. "Kittler vertraut statt dessen seinen steckengebliebenen Lesezeichen in der Rowohltschen Taschenbuchausgabe, an denen entlang er noch einmal die inzwischen fragwürdig gewordene Geschichte von 'Vicos Kulturwissenschaft als Absetzung von der neuzeitlichen Naturwissenschaft' erzählt" (715). Nachdem er Kittlers Bedauern darüber zitiert hat, daß "kulturwissenschaftliche Theorien nicht von der strahlenden Kontextfreiheit heutiger Programmiersprachen" seien (715), bescheinigt er ihm, "wenigstens" in seiner Deutung der Herderschen Kulturtheorie zur "(historischen) Kontextfreiheit" gefunden zu haben (716). Herders Diktum vom "Menschen als Mängelwesen" sei nämlich "ohne Kenntnis der naturrechtlichen Denkfigur der imbecillitas mentis nicht adäquat [zu] verstehen. Aus ihr erklärt [sic] sich die soziale Natur des Menschen und seine Sprachfähigkeit, die Lehre vom Instinktmangel erhält eine methodische Funktion im Zusammenhang der nach-grotianischen Gesellschaftstheorien" (716). Indem Kittler diese Traditionslinie, die von Hugo Grotius zu Herder führt, kappt, reduziert er "das komplexe anthropologische Modell" auf einen "selbstbezüglichen Effekt der im übrigen neurotische Zwänge produzierenden Kernfamilie" (716).
Der Begeisterung des Rezensenten der FAZ (26. Februar 2001), den Vollhardt mit den Worten zitiert: "Die Philologie ist noch nicht am Ende", vermag er sich unter diesen Umständen nicht anzuschließen: "Es sind [...] zu viele Ausführungen Kittlers, die im Niemandsland zwischen philologischer Wissenschaft und kulturphilosophischer Erzählung ihre Konsistenz verloren haben. Hinzu kommt, daß derartige Einwände, Korrekturen und Hinweise im Denk-, Sprech- und Schreibstil der neuen Berliner Kulturwissenschaft als kleinlich und borniert erscheinen" (716). Mit dem Hinweis auf das Buch von Alan Sokal und Jean Briemont Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen (München: Beck) gibt Vollhardt zu verstehen, was er von der "neuen Berliner Kulturwissenschaft" und ihrem berühmten Cheftheoretiker hält, nämlich nichts. (M.R.)