KULTURTHEORIELITERATURWISSENSCHAFT
KRITISCHEKULTURTHEORIE
KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE

Graevenitz, Gerhart von. 1999. "Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung". Deutsche Vierteljahrsschrift, 73/1, 94-115.

Kommentar: Graevenitz' "Erwiderung" auf den Aufsatz "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?" von Walter Haug (Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 69-93) hebt mit einer ironisch-spitzen Rekapitulation des dort dargelegten Problemfeldes an, die aufgrund ihrer z.T. verzerrenden Raffung des Haugschen Gedankengangs, wie auch durch bewußt oder unbewußt mißverstehende Unterstellungen, den so Herausgeforderten zu einer Richtigstellung genötigt hat ("Erwiderung auf die Erwiderung" (E.E), Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 116-121), die hier, wo nötig, mit berücksichtigt werden soll.
Der Hauptvorwurf, den Graevenitz gegenüber seinem Tübinger Kollegen erhebt, besteht darin, daß dieser angeblich den "Sonderstatus der Literatur", auf den Haug in der Tat beharrt, in einem konservativen Sinn zu zementieren sucht, um im Elfenbeinturm einer musealisierten, wenn nicht gar mumifizierten, Literaturwissenschaft dem ansteigenden Meer der Kulturwissenschaften zu widerstehen. Er bezieht sich dabei auf das Wort von der "lebendig-gespannten Konstanz des Dichterischen im Spannungsfeld seines Wirklichkeitszusammenhangs". Haug verwahrt sich entschieden gegen diese Interpretation: "Es geht bei dem, was ich mit ‚lebendig-gespannter Konstanz' meine, nicht [...] darum, eine ‚Innensicht', eine ‚Autarkie' oder ‚Spezifität' der Literaturwissenschaft ‚ängstlich' zu hüten und den ‚Wirklichkeitszusammenhang' bestenfalls über eine ‚wohldosierte Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften' einzubeziehen, mein Wort zielt vielmehr [...] darauf, die traditionelle Form der Literaturgeschichtsschreibung aufzubrechen und die dichterische Gestalt als eine Leistung zu sehen, die dem Kontingenten abgerungen ist" (EE, 116).
Ein weiterer Vorwurf ist, Haug habe "die Symptome mit den Ursachen verwechselt" (95). Die monierten "Als-Metamophosen" seien mitnichten "Schwächeanfälle des disziplinären Selbstbewußtseins" (95), sondern vielmehr Teil und Ausdruck der "nachholenden Modernisierung" (Böhme/Scherpe), die seit den späten 60er und in den 70er Jahren alle Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland von Grund auf verändert habe. Ausgehend von den durch die neuen Medien ausgelösten Umwälzungen, gibt Graevenitz im folgenden eine Erklärung dafür, "daß sich der Begriff der ‚Kulturwissenschaften' beginnt, vor den der ‚Geisteswissenschaften' zu schieben" (96) und skizziert damit zugleich, wie die Literaturwissenschaft in Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften einen neuen Aggregatzustand erreichen kann, der allein sie in den Stand setzen würde, auf gegenwärtige Entwicklungen sach- und zeitgemäß zu reagieren:
"Es genügt nicht mehr, mit der alten hermeneutischen Figur von ‚Buchstabe' und ‚Geist' und ihrem mehr oder minder weichen Platonismus aktuelle Medienanalyse zu betreiben. Weil aber die Basis des neuen Medienbegriffs die materielle Kultur der technischen Apparate ist und nicht der Buchstabe-Geist-Platonismus der alten Schrift-Begriffe, darum ziehen es viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, das Ensemble der Kunst-, Medien- und Literaturwissenschaften näher an die von jeher mit der materiellen Kultur befaßten Wissenschaften heranzurücken, sie alle zusammen als ‚Kulturwissenschaften' zu bezeichnen und in ihrem Kontext zu bestimmen, was unter aktuellen Voraussetzungen Schrift, Buch und Text bedeuten können" (95-96).
Der sich anschließende wissenschaftshistorische Rückblick auf die Karriere des Begriffspaars Kulturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft sei dem interessierten Leser zur eigenen Lektüre anempfohlen.
Wie unterscheidet nun Graevenitz Kultur- und Geisteswissenschaften voneinander?
"Es geht, sehr vereinfacht gesagt, nicht um den wechselseitigen Ausschluß von ‚Kultur' und ‚Geist', sondern darum, ob der ‚Geist' Subjekt oder Objekt von ‚Kultur' ist. Die Kulturwissenschaft untersucht Materialität, Medialität, Strukturen und Geschichte von Kulturellem und Kulturen, um zu sehen, wie Geistiges produziert und konstruiert wird. Die Geisteswissenschaft macht Zeugnisse von Kultur und Kulturen zu Objekten, die als Erscheinungsweisen des Geistes zu deuten und zu verstehen sind. Die Kulturwissenschaft tendiert strukturell zum Pluralismus des Kulturellen, die Geisteswissenschaft zum Einheits- und Ganzheitsmodell des einen menschlichen Geistes" (98). Graevenitz sieht die "aktuelle Frontstellung von Kultur-und Geisteswissenschaften" dementsprechend vor allem in der "Oppostition von Pluralität und Einheit als Letzthorizonten der Wissenschaft" repräsentiert: "Das ist es, was auch Walter Haug [...] gegeneinanderführt: den kulturwissenschaftlichen Pluralismus des interdisziplinären, latent unseriösen ‚Spiels' und die in Werk, Autonomie und Geschichte zentrierte hermeneutische Literaturwissenschaft. [...] Genau so aber ist Kulturwissenschaft aufzufassen: als der pluralistische Kontext für die Selbstreflexivität einer pluralistischen Literaturwissenschaft und nicht als der ungleiche Gegenpart in einer verfehlten Konfrontation." (98)
Im zweiten Teil seines Aufsatzes geht Graevenitz genauer auf den genannten kulturwissenschaftlichen Pluralismus ein. In der vom Sprachforscher und Philosophen Heymann Steinthal (1823-1899) und vom Philosophen Moritz Lazarus (1824-1903) begründeten "Völkerpsychologie" sieht er "einen frühen Versuch, die zunehmende disziplinäre Vereinzelung des modernen Wissens auf einer höheren Ebene wieder zusammenzuführen, ohne die Errungenschaften der Fächerkompetenzen preiszugeben" (99). Völkerpsychologie wird heute nicht mehr betrieben, doch der Kerngedanke, der diesem Prototypen einer als Meta-Wissenschaft verstandenen Kulturwissenschaft zugrunde liegt, nämlich eine Vielheit von Daten unter einem Gesichtspunkt zu erforschen, sie, mit anderen Worten, zu perspektivieren - dieser Gedanke lebt in den heutigen Kulturwissenschaften fort. Graevenitz legt Wert auf die Feststellung, daß "‚Kulturwissenschaft' ein Kontextbegriff ist" und Kulturwissenschaft "nur [...] ein Kontext, der freilich die disziplinären Orientierungen in neue Dimensionen und Perspektiven rückt und ihnen neue Selbstreflexivität abverlangt" (100). Haugs Überlegung, daß es möglicherweise begründeter sei, wenn man die Kulturwissenschaften als Teil der Literaturwissenschaft ansähe, anstatt letztere wie eine bloße Intarsie eines expansiven (und potentiell, trotz gegenteiliger Beteuerungen, extinktiven) Paradigmas zu behandeln - von dem andererseits nicht einmal sicher sei, ob ihm außerhalb der Begrifflichkeit eine greifbare Substanz zukomme - erteilt Graevenitz eine deutliche Absage: "Es wäre [...] eine hoffnungslose Überforderung der Literaturwissenschaft, wollte sie sich in irgendeiner ihrer Gestalten an die Stelle dieses Kontextes setzen" (100).
Im folgenden setzt er auseinander, daß der "strukturelle Begriff" Kulturwissenschaft "kein leerer Transzendentalismus" bleibt: "Zur Semantik von ‚Kulturwissenschaft' [gehören] zwei Ebenen, der allgemeine und strukturelle Pluralismus einerseits und die konkrete Konzeptualisierung von Pluralismus in disziplinären Kulturwissenschaften wie der Ethnologie andererseits. Die ‚Kunst der Multiperspektivität' bezeichnet die allgemeine, ein ‚material gefüllter Begriff von Kulturwissenschaft' die andere Ebene" (100). Geertz' Rekurs auf Paul Ricœurs Hermeneutik, bei gleichzeitiger Verschaltung seines Denkens mit einem "breiten Paradigmen-Kontext", stellt vor diesem Hintergrund ein Paradebeispiel eines "perspektivierten Pluralismus" dar: "Er zentriert seine offene und vielfältige paradigmatische Orientierung, und er zentriert mit Hilfe eines Modells, das selbst als theoretische Begründung des ‚perspektivierten Pluralismus' zu lesen ist" (100). Ein solches Mobile "paradigmatischer und disziplinärer Orientierungen" (101-102) ist, so Graevenitz, "vonnöten", um Kultur - verstanden als "Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind" (Geertz) - "angemessen analysieren und beschreiben zu können" (101).
Schließlich stellt er - Haug zum Teil widersprechend - fest, daß es zu kurz greifen würde, Geertz' anthropologische Kulturwissenschaft "einfach [als] verspätete Übernahme alteuropäischer Hermeneutik" zu umschreiben; vielmehr handele es sich dabei um eine "von der angelsächsischen Sprachphilosophie inspirierte transdisziplinäre Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit disziplinärer Forschung" (101).
Der dritte Teil der Erwiderung bringt eine - an den Kernthemen Individualität des Werks, Autonomie des Werks, Hermeneutik und Geschichte orientierte - Kritik der Haugschen Konzeption von Literaturwissenschaft, die, so Graevenitz, "Elemente einer historisch-hermeneutischen Philologie verbindet mit Elementen der idealistischen Ästhetik." (103) Graevenitz' Bestreben ist es anzudeuten, "wie der kulturwissenschaftliche Kontext von Walter Haugs literaturwissenschaftlichen Kernbegriffen aussieht." (103)
Zum ersten Punkt (Individualität des Werks). Graevenitz demonstriert die Porosität eines idealistischen Werkbegriffs, "der mit den Adjektiven ‚individuell' und ‚autonom' auskommt" (104-105), indem er die ‚Hefe' vorstellt, die die umkämpfte ‚feste Burg' seit jeher als Luftschloß konstituiert. Medienhistorische Forschung, Literatur- und Sozialgeschichts-schreibung, Diskursanalyse, philosophische Ästhetik und Intertextualitätsdebatte haben das irrlichternde Herz des ‚alten' Werkbegriffs offengelegt und lassen heute nur mehr einen "modernen Werk-Begriff" vertretbar erscheinen, "zu dessen Positivität gerade das ‚Risiko der Selbstgefährdung' gehört" (104). Um die Brüchigkeit des Konzepts auch typographisch zu markieren, vermeidet Graevenitz die eher affirmative, da Kompaktheit suggerierende, Schreibung "Werkbegriff" und rückt durch Einfügung eines Bindestrichs das Gemachte, Prekäre des Kompositums in den Vordergrund: "Werk-Begriff". Der Bindestrich symbolisiert zugleich das ‚Gelenk', das dieser kritische, "auf seinen ganzen kulturhistorischen Kontext hin" geöffnete, Werkbegriff (105) seinem starren idealistischen Pendant voraushat, und das ihn dadurch erst tauglich macht für die Analyse von Texten, ‚die nicht stillhalten'.
Das Stichwort "Autonomie" ist gefallen. Graevenitz' Verständnis des Begriffs beruft sich auf Adorno, den er mit dem Satz zitiert: "Ihr [der Kunst] gesellschaftliches Wesen bedarf der Doppelreflexion auf ihr Fürsichsein und auf ihre Relationen zur Gesellschaft" (105). Diese Doppelreflexion ist die Bedingung für das Ästhetische. Doch während Adorno die Fähigkeit zur "autonomen Reflexivität der Kunst" nur den Werken der Hohen Kunst zugestand und damit diese allein dem Ästhetischen zugänglich erklärte, plädiert Graevenitz unter Berufung auf Albrecht Wellmer, Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash dafür, den Begriff des Ästhetischen - etwas pompös (und etwas tautologisch) definiert als "Heraustreten autonomer ästhetischer Reflexivität aus der kulturellen Bedingtheit in die Anschaulichkeit des Werks" (105) - für die Populärkultur zu öffnen: "Die normative Ausschließung der Möglichkeit von Selbstreflexivität im ‚Wilden', ‚Mythischen' oder ‚Populären' [...] ist dogmatisch" (106).
Hier gilt es einzuhaken. Zunächst: Die Unterscheidung zwischen ‚Hochkultur' und ‚Populärkultur' in Hinblick auf das Kriterium der Autoreflexivität spielt bei Haug keine Rolle. Selbstverständlich kann auch Rockmusik (Pop, Elektronische Musik etc.) potentiell eine Form ästhetischer Reflexivität darstellen, wie sich umgekehrt der Besucher einer Wagneroper auf dem Grünen Hügel mit dem Vorwurf konfrontiert sehen mag, sich freudig und aus freien Stücken in die Zwangsjacke der herrschenden Verhältnisse zu wickeln. Dies vorausgeschickt, darf der zitierte Graevenitzsche Satz als ‚des Pudels Kern' in der ganzen Debatte um Literaturwissenschaften vs. Kulturwissenschaften bezeichnet werden. Hatte Haug in aller Klarheit zu Protokoll gegeben: "Die Literatur kann etwas, was der balinesische Hahnenkampf und mit ihm alle übrigen kulturellen Manifestationen dieser Ebene nicht können, nämlich sich explizit selbst reflektieren" (86), so fällt bei Graevenitz diese Grenzziehung zum ‚Wilden' und ‚Mythischen' weg: "Man darf daran erinnern, daß es ausschließlich eine Frage des wissenschaftlichen Paradigmas ist, ob man im Mythischen und Ethnischen Selbstreflexivität entdeckt oder nicht" (106). Damit landen Hahnenkampf und Shakespeare in einem Topf, genau gesagt im bunten Einerlei des "Anything goes" (Feyerabend) bzw. des "All is pretty" (Warhol) - beides Formulierungen einer dezidiert unkritischen Haltung, die als in die Wissenschaft verlängerter Quietismus charakterisiert werden kann. Dessen Losung lautete bekanntlich: "Whatever is, is right." (M.R)