Müller-Funk,
Wolfgang. 2001. "Kultur, Kultur. Anmerkungen zu einem Zauberwort".
Merkur,
55/8, 717-723.
Kommentar:
Das Asyndeton des Titels kündigt ein Problem vor allem der ersten
Hälfte dieses Textes an. Dort werden die verschiedenen Konzepte von
Kultur - des Begriffes und der Sache - unverbunden nebeneinandergestellt,
ohne einen Versuch zu wagen, einen, im alten Sinne des Wortes, 'tüchtigen'
Kulturbegriff daraus zu synthetisieren. Der bloße Aufweis des Faktischen
mag als kompilatorische Arbeit verdienstvoll sein, bringt an sich aber
keinen Erkenntnisgewinn.
Die zweite Hälfte des Aufsatzes widmet sich der Frage des sogenannten
Multikulturalismus (im Sinne einer "Einheit in Vielfalt" [720]),
dessen Realisierbarkeit Müller-Funk skeptisch beurteilt; den Abschluß
bildet eine Rückblende auf den habsburgischen Vielvölkerstaat
aus Anlaß der Teil-Wiederveröffentlichung des Kronprinzenwerks
von 1886-1902, "einer[r] umfassende[n] Dokumentation aller Ethnien,
Kulturen, Regionen und Landesteile der österreichisch-ungarischen
Monarchie" (722) (Wien: Böhlau, 1999).
Das Wort "Kultur" kann, wie der Autor zu Beginn anmerkt, einerseits
"ein kleines Segment [...], ein selbstreferentielles System im Sinne
Luhmanns" bezeichnen, andererseits aber auch "das Ganze einer
Gesellschaft" oder, in den Worten Eliots, "the whole way of
life of a people, from birth to the grave, from morning to night and even
in sleep", wozu dann selbstverständlich (aber es wird gerne
unterschlagen) auch "Hunger, Leiden und Unterdrückung"
gehören. Hinsichtlich einer dringend gebotenen Eingrenzung und Zuspitzung
des Themenkomplexes erscheint Geoffrey Hartmans Beschreibung von Kultur
(vs. Natur vs. Gesellschaft) als "anthropologischer Selbstbezug"
dienlich; Müller-Funk faßt sie in die Formel: "Ohne Kultur
ist man ein Niemand" (718). Hartmans Definition bietet nicht nur
den Vorteil, im lokalen wie im globalen Umfeld zu gelten, sie ist auch
anschließbar an das Konzept der Interkulturalität. "Kultur
ist das Medium, das Identität dadurch produziert, daß es Differenz
setzt" (718). Die Begegnung mit der Kultur der anderen ermöglicht
die Vergewisserung über die eigene kulturelle Verfaßtheit:
der "Blick des Fremden" auf die "Zivilgesellschaft"
funktioniert für diese als "Reflexionsfigur" (722).
Die Festlegung von Kultur als "ein Insgesamt von Lebenshaltungen"
(T. S. Eliot, Raymond Williams), verknüpft mit der Einsicht, daß
das, was die Kulturen voneinander unterscheidet, "ihr gesamter [...]
Habitus, jenes Ganze, das den klassischen Gegenstand der Ethnologie bildet"
sei, führt Müller-Funk auf die Schlußfolgerung, in eben
dieser - "freilich modifizierte[n]" - Ethnologie den Anwärter
auf die Stelle der neuen "Leitwissenschaft" zu sehen. Sie wäre
"insofern kritisch, als sie sich von der Vorstellung der guten Kultur
und zugleich vom radikalen relativistischen Kulturalismus verabschiedet"
(719).
Im folgenden kommt Müller-Funk auf den postmodernen Kulturalismus
zu sprechen - Gegenkonzept zum "Universalismus" - der "entgegen
seinem abgeklärten Gestus [...] eine verschwiegene Utopie" enthalte,
welche außer "in fast allen Werken der angelsächsischen
cultural studies" auch im (deutschen) "Multikulturalismus"
ihren Niederschlag finde. An diesem äußert er starke Zweifel,
nicht zuletzt auch an dem Urteil, wonach "Menschen mit mehrfacher
nationaler Kodierung weniger anfällig für die aggressive Verwerfung
des Anderen" seien (719). Die Crux des multikulturellen Programms
liegt für Müller-Funk dabei vor allem in den "Ungleichzeitigkeiten",
die aus dem "antagonistischen, das heißt unvereinbaren Verhältnis"
der aufeinandertreffenden Kulturen "im Hinblick auf moderne, säkulare
Gesellschaften" erwachsen (721). Das weitgehend friedliche Zusammenleben
von Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund deutet er als Ergebnis
von Indifferenz, nicht von Toleranz: "Zum Mißvergnügen
vieler traditionalistisch gestimmter Einwanderer verhalten sich moderne
westliche Gesellschaften gegenüber partikularen Kulturen zunächst
einmal genauso gleichgültig wie gegenüber Religion oder Sexus.
Weil sie das tun, nicht aufgrund eines toleranten Kulturalismus, leben
Menschen fremder Herkunft wenigstens programmatisch unbehelligt bei uns"
(722). Dementsprechend negativ lautet das Fazit: "Politisch betrachtet
ist die Kultur im umfassenden Sinn mehr ein Problem als ein Hoffnungsträger,
weil sie Differenz und Ungleichheit festhält, symbolisch markiert;
als Selbst- wie als Fremdbild." Zum Schluß, von der Empirie
zur Theorie zurückschwenkend, fordert Müller-Funk eine "skeptische
Kulturwissenschaft": "weil nicht alles Kultur ist, muß
nicht alles Gegenstand von Kulturwissenschaft sein" (723). Es ist
dies eine mehr als vage Aufgabenbestimmung, die den Leser enttäuscht
zurückläßt. Wenn am Ende das Banale steht, nützt
auch das beste Problembewußtsein nichts. (M.R.)