KULTURTHEORIEINTERKULTURALITÄT
KRITISCHEKULTURTHEORIE
KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE

Appiah, Kwame Anthony. 2002. „États altérés“. Le Débat, 118. Paris: Gallimard, 17-33.

Kommentar: Der Aufsatz ist Appiahs 1992 erschienenem Essayband In My Father’s House entnommen. Der aus Ghana stammende Autor, Professor für Philosophie am Du Bois Institute for African American Studies der Harvard University, gibt einen Überblick über die Entwicklung Afrikas seit dem Ende der Kolonialherrschaft. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Es erscheint ergiebiger, einen kurzen Artikel über Appiah von Andreas Eckert hinzuzuziehen („Stolzer Ashanti. Kultur als Austausch“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. April 2002, N 3/ Geisteswissenschaften), in dem einige Thesen des Wissenschaftlers referiert werden. Zu nennen wäre z. B. die, wonach es „keine Rassen, aber Rassismus gebe“. Als Reaktion auf die Apartheidpolitik mag das angehen, gleichwohl ist es blanker Unsinn: Menschenrassen – lexikalisch definiert als „geographisch lokalisierbare Formengruppen des heutigen Menschen (Homo sapiens sapiens), die sich aufgrund überzufällig häufiger Genkombinationen mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden“ – gibt es natürlich, und zwar Europide, Mongolide, Indianide und Negride, und es weist weder auf Schubladendenken noch auf Rassismus hin, diese Differenzierung, die kein Überlegenheits-/Unterlegenheits-Verhältnis zwischen den Rassen behauptet, als objektiv gegeben anzusehen. Hingegen ist es mehr als fraglich, ob Appiahs „kosmopolitischer Patriotismus“ existiert und ob er, wenn es ihn denn gibt, eine brauchbare Kategorie darstellt: „Ein kosmopolitischer Patriot setzt sich nach Appiahs Definition keineswegs über die Vielfalt menschlicher Identitäten hinweg. Doch er leidet nicht an den Differenzen, sondern er genießt sie.“ Man darf das getrost ins Reich der Märchen verbannen, davon abgesehen, daß es etwas simpel ist und kaum empirischen Daten entsprechen dürfte. In die gleiche Richtung – man könnte sie als Ethnokitsch bezeichnen – weist auch folgendes, von Eckert durchaus zustimmend angeführtes Zitat: „Der Kosmopolit besteht darauf, daß es die Unterschiede sind, welche wir mit an den Tisch bringen, derentwegen es sich überhaupt lohnt, miteinander umzugehen.“ Niemand wird bestreiten, daß kulturelle Vielfalt ein bewahrenswertes Gut ist. Appiahs naives Bild vom (runden) Tisch, um den sich gleichberechtigte Partner oder auch Gegner versammeln, um aufgeklärt miteinander zu plaudern, unterschlägt aber vollkommen die kulturelle Dominanz des Westens, speziell des chairman Nordamerika: Der american way of life bestimmt heute, wo es lang geht; Appiah, seit langem amerikanischer Staatsbürger, müßte es eigentlich wissen. - In diesem Zusammenhang wäre auch auf den Wirtschaftfaktor Kultur zu verweisen, für den das Konzept des Kosmopolitismus überhaupt keine Rolle spielt, außer vielleicht in dem konsolidierenden Sinne, daß es von kritischen Fragen ablenkt.
Diskutabel ist des weiteren Appiahs These von der fortwährenden Evolution der Kulturen, die keineswegs zwangsläufig zu einer die Differenzen nivellierenden Angleichung, wohl aber zu wechselseitigen Austausch- und Aneignungsprozessen führe. Demzufolge bilden die Kulturen der Welt ein fluktuierendes System, das eine Festlegung dessen, was jeweils das Eigene und das Fremde ist, unmöglich macht. Ohne bestreiten zu wollen, daß sich Kulturen entwickeln, daß sie Einflüsse 'von außen' aufnehmen und ihrerseits beeinflussend wirken (können) – sie sind kein Pudding, und es ist sehr wohl möglich, das Eigene zu bestimmen. Wäre ein solches Bewußtsein des Eigenen nicht überhaupt die Voraussetzung für den respektvollen Umgang mit dem Anderen? Ist nicht alles egal, wenn alles 'egal' ist? Begibt man sich nicht der Möglichkeit, den Ursachen kultureller Erosion auf den Grund zu gehen und auf diesem Wege Gegenmittel zur Abwehr eines Prozesses zu finden, dem in Appiahs mythisch-organischem Modell die Unangreifbarkeit eines meteorologischen Ereignisses zuwächst, das sich nur beobachten, aber nicht kritisieren läßt?
Der auf den ersten Blick ultraliberale Ansatz Appiahs erweist sich bei näherem Hinsehen also als durch und durch ideologisch und herrschaftsfreundlich. Anstelle einer Kulturtheorie stiftet Appiah eine Kulturreligion, die die Probleme verkleistert, anstatt sie zu lösen. (M.R.)