KULTURTHEORIELITERATURWISSENSCHAFT
KRITISCHEKULTURTHEORIE
KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE

Schneider, Roland. 1992. "Literarisierung versus Moralisierung. Bemerkungen zu unterschiedlichen 'Instrumentalisierungsweisen'“ in mittelalterlicher 'Handwerker-Literatur' in Japan und Deutschland". Nenrin - Jahresringe. Festgabe für Hans A. Dettmer. Hg. von Klaus Müller und Wolfgang Naumann. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 232-240.

Schlagwörter: Literaturwissenschaft, Interpretation, Vergleich, Instrumentalisierung, Ideologie

Abstract: Der Aufsatz Roland Schneiders vergleicht Darstellungen von Handwerker- und Berufsleben in der europäischen und japanischen
Literatur, wobei als Vergleichstermini zwei mittelalterliche Werke ausgewählt wurden: das Ständebuch Jost Amman's (1568) und das
Shichijûichiban shokunin utatawase (um 1500). Ziel des Beitrages ist es, durch inhaltliche, strukturelle und stilistische Analyse der Gedichte Sicht- und Behandlungsweise des Gegenstandes sowie literarische Utilitarisierung, Funktionalisierung, letztlich Instrumentalisierung von Handwerker- und Berufsleben aufzudecken. Die Studie beginnt mit der Ausarbeitung inhaltlicher und intentioneller Differenzen zwischen dem Ständebuch und Shichijûichiban shokunin utaawase. Im Falle des ersteren weist Schneider auf die exponierte Stellung realistischer Züge innerhalb zahlreicher Gedichte des Ständebuches hin: Schilderungen/Erwähnungen von Arbeitsabläufen, handwerklichen Produkten, materiellem Lohn (Geld), Aufforderung zum Kauf, Kundenanwerbung. Das Shichijûichiban shokunin utaawase hingegen greift zwar ebenfalls handwerkliches Vokabular, Berufsnamen, Produktbezeichnungen auf, doch handelt es sich dabei um Ornamente, dichterische Konventionen, die jeglicher Aussagekraft bezüglich der realen Situation des Handwerkerlebens entbehren. In dieser Haltung sieht der Verfasser eine Instrumentalisierungsweise, die er mit dem Begriff "Literarisierung" bezeichnet und wie folgt definiert: "[die] Nutzbarmachung bzw. Benutzung von Stoffen und Gegenständen zu literarisch-ästhetischen, auch rhetorischen Zielen, die nicht unmittelbar oder a priori im "benutzten" Gegenstand angelegt sind." (S. 236). Zur argumentativen Untermauerung folgen der Rekurs auf Beispiele von Literarisierung von Berufen als Element der lyrischen Tradition Japans sowie Hinweise auf die marginale Stellung des handwerklichen Vokabulars innerhalb der Gedichtstruktur und die zuweilen explizite Beanstandung einer davon abweichenden Handhabung durch die Poetologie. Der Literarisierung stellt der Verfasser die Instrumentalisierungsweise der Moralisierung entgegen, die er am Beispiel von Christoph Weigels Abbildung der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände ... bis auf alle Künstler und Handwerker thematisiert und als Repräsentant einer gewandelten literarisch-geistigen Landschaft deutet. Verglichen mit dem Ständebuch haben die Gedichte der Abbildung den Realitätsbezug eingebüßt und stellen Lehrgedichte dar, die zu gesitteter Lebensführung und Erlangung des Seelenheils gemahnen; das auftretende Handwerk/Handwerkervokabular wird - jenseits seines unmittelbaren Sinnpotentials - zu Bausteinen für eine moralisierende Intention umfunktionalisiert.

Kommentar: Der Aufsatz Roland Schneiders ist strikt in den Kontext der klassischen Japanologie bzw. Komparatistik zu situieren. Er verzichtet ganz auf theoretisierende Digression und verfolgt objektgerichtet die Frage nach Formen und Mechanismen von Instrumentalisierung, Ideologisierung ursprünglich "neutralen" Stoffes in der japanischen und deutschen Literatur. Die ausgearbeiteten Differenzen präsentiert der Verfasser als ausschließlich literaturwissenschaftliche Erkenntnisse und dementsprechend ist auch der Beitrag nur unter diesem Kriterium zu bewerten: sachlich, aufschlussreich und bei allem wissenschaftlichen Anspruch sehr leicht verständlich. Eine Extrapolierung auf den weiteren (inter)kulturellen Rahmen bleibt dem Leser selbst überlassen, ist jedoch ohne tiefere japanbezogene Kenntnis kaum zu leisten und - sowohl angesichts der begrenzten Anwendbarkeit von Extrapolationen als auch des Selbstverständnisses dieses Artikels - durchaus mit der Gefahr der Fehlinterpretation verbunden. (D.L.)