KULTURTHEORIEKOMMENTARE
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I. Kulturtheorie/Kulturkritik

Bhabha, Homi K.. 2000 [engl. 1994]. Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.

Schlagwörter: Studien zur Inter- und Multikultur, Postkolonialismus, ethnische Minderheiten, Topographie der Kultur, kulturelle Ambivalenz und KontingenzFreud, Derrida, Heidegger

Abstract: Original: "The Location Of Culture". Mit diesem Band liegt das Hauptwerk von Bhabha erstmals komplett in deutscher Übersetzung vor. Kein Denker hat die Problematik der Verortung der Kultur so prägnant auf den Punkt gebracht wie dieser "anglisierte postkoloniale Migrant, der zufällig ein Literaturwissenschaftler mit leicht französischem Einfluss ist" - so Bhabhas Selbstcharakterisierung. In einer virtuosen , beziehungsreichen Sprache legt er dar, dass in postkolonialen Zeiten das "Wesen" oder der "Ort" der Kultur nicht mehr einheitlich, geschlossen verstanden werden kann. Derartigen Vorstellungen hält der Theoretiker der Hybridität sein Konzept des "Dritten Raumes" entgegen, das über die geläufigen Polaritäten wie Ich - Anderer, Dritte Welt - Erste Welt weit hinausgeht. Die in der "Verortung der Kultur" versammelten Texte zählen zu den innovativsten ein einflussreichsten Arbeiten der aktuellen Literaturtheorie und Kulturwissenschaft. Eine ernstzunehmende Beschäftigung mit postkolonialen und multikulturellen Fragen ist - wie Toni Morrison einmal sagte - ohne eine Lektüre von Homi K. Bhabhas Werk schlicht undenkbar. (Klappentext)Rez.: Literaturen 11/2000, S. 100

Kommentar: In unserem von Emigration, Migration und ethnischer Hybridität gekennzeichneten Zeitalter müssen wir zunehmend mithilfe von Denkfiguren wie ‚Zwischenräumen', ‚Spalten', ‚Spaltungen' oder ‚Doppelungen' operieren, um die Frage der kulturellen Differenz als produktive Desorientierung und nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Andersartigkeit zu verhandeln - so könnte man das zentrale Anliegen Bhabhas zusammenfassen. (M.M)

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Biti, Vladimir. 2001. Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe. Reinbek: Rowohlt

Stichwörter: Handbuch zu 236 Stichwörtern, Interdisziplinarität, kulturtheoretische Schulen, osteuropäischer Sprachbereich, Glossar, Lemmata

Abstract: Das Wörterbuch zur Literatur- und Kulturtheorie. Im Zentrum dieses Werks stehen "Schulen" wie zum Beispiel Russischer Formalismus, New Criticism, Hermeneutik, Geistesgeschichte, Strukturalismus, Semiotik, Poststrukturalismus, Historismus (New Historicism), Systemtheorie, Cultural Studies, Feministische Literaturwissenschaft, Postkoloniale Theorie und Empirische Literaturwissenschaft. (Verlagsankündigung)

Unter den am häufigsten genannten Autoren - Bachtin, Barthes, Culler, Derrida, Eco, Foucault, Genette, Greimas, Jakobson, Kristeva, Lacan, Lévi-Strauss, Luhmann, Ricœur, de Saussure, Todorov - finden sich nur wenige Literaturwissenschaftler im engeren Sinne. Dies zeigt, in welchem Maß sich die Theorie(n) der Literatur im vergangenen Zentennium von Nachbarwissenschaften haben bestimmen lassen: von Linguistik und Ethnologie, von Sozialwissenschaften, Psychologie und Ästhetik, und es erforderte bei der Übertragung nicht selten Ausgriffe in die Terminologien benachbarter Wissenschaften.

Kommentar: Stellt das Begriffsinstrumentarium unterschiedlicher Sprachbereiche gegeneinander, um so Unterschiede und Gemeinsamkeit herauszuarbeiten und die Bedeutung der Begriffe innerhalb ihres jeweiligen theoretischen Kontextes zu betonen. Trägt in seiner Auswahl der Begriffe aus den Bereichen Sprach-, Kultur-, Geisteswissenschaft, Philosophie, Soziologie usw. der Interdisziplinarität der Literatur- und Kulturtheorie Rechnung. Das Handbuch versteht sich als Einführung in die literarische Theorie, das sowohl kulturale als auch ethisch-politische Aspekte der unterschiedlichen theoretischen Schulen zusammenführt und auf ihrem aktuellen Stand darstellt. (M.M.)

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Bonnell, Victoria E/Hunt, Lynn (Hgg.). 1999. Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press.

Textauszug: "If culture has a distinct semiotic logic, then by implication it must in some sense be coherent. But it is important not to exaggerate or misspecify the coherence of symbol systems. I assume the coherence of a cultural system to be semiotic in a roughly Saussurian sense: that is, that the meaning of a sign or symbol is a function of its network of oppositions to or distinctions from other signs in the system. This implies that users of culture will form a semiotic community - in the sense that they will recognize the same set of oppositions and therefore be capable of engaging in mutually meaningful symbolic action. To use the ubiquitous linguistic analogy, they will be capable of using the ‚grammar' of the semiotic system to make understandable ‚utterances'. It should be noted, however, that this conception actually implies only a quite minimal cultural coherence - one might call it a thin coherence. The fact that members of a semiotic community recognize a given set of symbolic oppositions does not determine what sort of statements or actions they will construct on the basis of their semiotic competence. Nor does it mean that they form a community in any fuller sense. [...] Cultural analysts who - like me - wish to argue that cultural systems are powerfully constraining have often drawn back from deconstructionist arguments in horror. I think this is a major mistake; indeed, I would maintain that a broadly deconstructionist understanding of meaning is essential for anyone attempting to theorize cultural change. Deconstruction does not deny the possibility of coherence. Rather, it assumes that the coherence inherent in a system of symbols is thin in the sense I have described: it demonstrates over and over that what are taken as the certainties or truths of texts or discourses are in fact disputable and unstable. This seems entirely compatible with a practice perspective on culture. It assumes that symbol systems have a (Saussurian) logic but that this logic is openended, not closed. And it strongly implies that when a given symbol system is taken by its users to be unambiguous and highly constraining, these qualities cannot be accounted for by their semiotic qualities alone but must result from the way their semiotic structures are interlocked in practice with other structures - economic, political, social, spatial, and so on." (William H. Sewell, Jr., "The Concept(s) of Culture", 49-51)

Kommentar: Der Band versammelt, neben einer Einleitung der beiden Herausgeberinnen und einem Nachwort von Hayden White, neun Essays, die in vier Kapitel unterteilt sind: 1. "Culture as Concept and Practice" ("The Concept(s) of Culture"; "Method and Metaphor after the New Cultural History"), 2. "Knowledge in the Social Sciences" ("Science Studies after Social Construction: The Turn toward the Comparative and the Global"; "The Privatization of Citizenship: How to Unthink a Knowledge Culture"), 3. "Narrative, Discourse, and Problems of Representation" ("Cultural History and the Challenge of Narrativity"; "Colonizers, Scholars, and the Creation of Invisible Histories"; "Cultural Analysis and Moral Discourses: Episodes, Continuities, and Transformations", 4. "Reconstructing the Categories of Body and Self" ("Why All the Fuss about the Body? A Medievalist's Perspective"; "Problematizing the Self").
Im folgenden beziehe ich mich speziell auf den Aufsatz von William H. Sewell, Jr., Politikwissenschaftler und Historiker an der University of Chicago: "The Concept(s) of Culture", der vor allem die Debatten in der Anthropologie der 80er und 90er Jahre zum Hintergrund hat und mir im Hinblick auf den Entwurf einer Kritischen Kulturtheorie besonders interessant zu sein scheint.
Sewell trennt zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Bedeutungen des Terminus' Kultur, und zwar Kultur als Abstraktum, d. h. als theoretisch definierte Kategorie des sozialen Lebens einerseits, wie dies auch Wirtschaft, Politik und Biologie sind, und Kultur als Datum, d. h. als konkret vorhandenes, aus Überzeugungen und Praktiken zusammengesetztes Gebilde andererseits ("a concrete and bounded world of beliefs and practices"), ob das nun die amerikanische, französische, samoanische usw. Kultur im allgemeinen oder die entsprechende Underground-, Mainstream-, Elite- usw. Kultur im speziellen ist. (39)
Sewell zählt im folgenden zunächst fünf verschiedene Konzeptualisierungen von Kultur als theoretischer Kategorie auf, wobei er mit den s. E. wenig brauchbaren Entwürfen anfängt - drei an der Zahl - um bei den zwei tragfähigeren Theoretisierungen zu landen, die die (Geistes-)Wissenschaften in den 60er und 70er bzw. in den 80er und 90er Jahre maßgeblich geprägt haben.
Erste der ‚schwachen' Konzeptualisierungen ist die von Kultur (vs. Natur) als gelerntem Verhalten ("culture as learned behavior"): ihr Besitz unterscheidet den Menschen von anderen Tieren. Die Definition ist zu weit und damit unpraktikabel; auch die (vermeintliche) Einschränkung auf "learned behavior that is concerned with meaning" führt nicht weiter. (40-41)
Zu restriktiv hingegen scheint Sewell die Auffassung von Kultur als "institutional sphere devoted to the making of meaning": "The problem with such a concept of culture is that it focuses only on a certain range of meanings, produced in a certain range of institutional locations - on self-consciously ‚cultural' institutions and on expressive, artistic, and literary systems of meanings." (42) Der Einwand ist bedenkenswert, doch wäre zu fragen, ob man nicht schnell (wieder) bei einem alles verklebenden Kaugummi-Kulturbegriff landet, wenn man die Demarkationslinie "Selbstreflexivität" aufgibt. Indes denkt hier Sewell gar nicht an eine eventuelle Vernachlässigung nicht-westlicher kultureller Praktiken (Stichwort "Hahnenkampf"), sondern an die faktische, selbst-zensorische Entpolitisierung einer Kulturtheorie, die sich potentiell bestehender Eingriffsmöglichkeiten - über den ohnehin gern zugestandenen ‚Spielplatz' von Kunst, Literatur usw. hinaus - beraubt: "And since institutions in political and economic spheres control the great bulk of society's resources, viewing culture as a distinct sphere of activity may in the end simply confirm the widespread presupposition in the ‚harder' social sciences that culture is merely froth on the tides of society." (42) Die Frage ist also nicht: Political Correctness Ja oder Nein, sondern Politik Ja oder Nein, und in der Tat wäre es spannend zu erkunden, ob sich ein Kulturbegriff generieren läßt, der ‚kulturelle' Kultur und politisch-wirtschaftliche Kultur unter einen Hut bringt, ohne deswegen an Schärfe einzubüßen.
Die Formel "culture as creativity or agency" ist aus anderen Gründen kritikwürdig (was ja nicht dasselbe ist wie indiskutabel). Zwar ist die darin ausgedrückte Sicht, wonach Kultur ein (im besten Sinne) ‚nutzloses' Reich der Kreativität darstellt, das dem Zugriff wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen im Sinne einer Opposition "culture versus structure" entzogen ist, nicht unsympathisch (meint der Rezensent), doch wenn Sewell lapidar feststellt: "the opposition between culture and structure [...] is nonsensical in anthropology" (43), so leuchtet dies ohne weiteres ein. Sewell begründet seine Kritik an diesem Kulturbegriff, der erst bei genauerem Hinsehen eine fatalistische Komponente offenbart, folgendermaßen: "Identifying culture with agency and contrasting it with structure merely perpetuates the same determinist materialism that ‚culturalist' Marxists were reacting against in the first place. It exaggerates both the implacability of socioeconomic determinations and the free play of symbolic action. Both socioeconomic and cultural processes are blends of structure and agency." (43)
Damit kommt er nun auf die beiden Konzepte zu sprechen, die heute im Reden über Kultur miteinander um die Vorherrschaft streiten, nämlich "culture as a system of symbols and meanings" und "culture as practice". Das erstere, das mit den Namen Clifford Geertz und David Schneider verbunden ist, geht auf Talcott Parsons zurück, der zwischen "cultural system" ("a system of symbols and meanings"), "social system" ("a system of norms and institutions") und "personality system" ("a system of motivations") unterschied. Geertz und Schneider war es vor allem um die abstrahierende Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft (entsprechend o. g. Definition) zu tun, d. h. darum, die semiotischen Einflüsse auf das menschliche Handeln von den demographischen, geographischen, biologischen, technologischen, ökonomischen usw. Einflüssen abzulösen, mit denen sie ‚im wirklichen Leben' untrennbar verknüpft sind. Sewell resümiert diesen Ansatz, wie auch den Victor Turners sowie die strukturalistische(n) Alternative(n) der Lévi-Strauss, Barthes, Lacan und early Foucault wie folgt: "What all of these approaches had in common was an insistence on the systematic nature of cultural meaning and the autonomy of symbol systems - their distinctness from and irreducibility to other features of social life. They all abstracted a realm of pure signification out from the complex messiness of social life and specified its internal coherence and deep logic. Their practice of cultural analysis consequently tended to be more or less synchronic and formalist." (44)
Gegen diese starre Auffassung von Kultur ist seit etwa Mitte der 80er Jahre eine breite Opposition aufgetreten, die Kultur wieder verstärkt als performativen Begriff ins Recht setzen will und die Fixheit des Symbolischen durch eine neue, variable Akzentsetzung auf Praxis, Widerstand, Geschichte und Politik zu unterminieren sucht. Die Formel "culture as tool kit" (Ann Swidler) bringt diesen mobilen Kulturbegriff gut auf den Punkt.
Eine Gefahr, die Dinge so zu sehen, könnte allerdings darin bestehen, reale Machtverhältnisse mehr oder weniger als Fiktion abzutun, jedenfalls ihre Reichweite zu unterschätzen und letztlich, gerade durch die instabile (und irgendwie ja auch niedliche), dezentrierte Konzeptualisierung von Kultur, zur Stabilisierung des Bestehenden beizutragen: "Recent work on cultural practice has tended to focus on acts of cultural resistance, particularly on resistance of decentered sort - those dispersed everyday acts that thwart conventions, reverse valuations, or express the dominated's resentment of their domination. But it is important to remember that much cultural practice is concentrated in and around powerful institutional nodes - including religions, communications media, business corporations, and, most spectacularly, states. These institutions, which tend to be relatively large in scale, centralized, and wealthy, are all cultural actors; their agents make continuous use of their considerable resources in efforts to order meanings. Studies of culture need to pay at least as much attention to such sites of concentrated cultural practice as to the dispersed sites of resistance that currently predominate in the literature." (55-56) Als Korrektiv zur strukturalistischen Kulturtheorie hat die "Kultur als Praxis"-Schule unzweifelhaft befruchtend gewirkt (und tut es noch), aber vielleicht ist ihr erklärtermaßen politischer Ansatz faktisch auf eine Weise politisch, die für keinen (kritischen) Kulturwissenschaftler wünschenswert sein kann.
Sewell selbst plädiert folgerichtig für ein Zusammendenken beider vermeintlich inkompatibler Paradigmen: Kultur als System und Kultur als Praxis, und dies nicht etwa aus Harmoniesucht, sondern aus der Einsicht heraus, daß nur ein solchermaßen reformulierter Kulturbegriff sowohl das tendenzielle Wischiwaschi der Cultural Studies als auch die (zu) kurze Leine des Strukturalismus zu umgehen vermag. Es geht ihm dabei um nichts Geringeres als um die dialektische Vermittlung zwischen strukturalistischer und poststrukturalistischer Kulturtheorie. Wie er sie begründet, ist im obigen Zitat nachzulesen.
Durch sein salomonisches Urteil, das einem jahrelangen unwürdigen Gezerre um die Krone des Besserwissens ein Ende bereitet, wird der Blick auf das wirklich Wichtige frei: "The important theoretical question is [...] not whether culture should be conceptualized as practice or as a system of symbols and meanings, but how to conceptualize the articulation of system and practice" (47). (M.M.)

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Bueno, Gustavo. 2002. Der Mythos der Kultur. Essay einer materialistischen Kulturphilosophie (Einl. und Übers. v. Nicole Holzenthal). Bern: Peter Lang.

Was ist der Unterschied zwischen der Wirkung einer Aspirin und dem Besuch in der Oper? Kein wesentlicher, meint der spanische Philosoph Gustavo Bueno Martínez, der an der Universität von Oviedo bis 1998 als Professor für "Grundlagen der Philosophie und Geschichte der philosophischen Systeme" lehrte. Beides sind Tatsachen, die ihre konkrete Funktion als Beruhigungsmittel gleichermaßen gut erfüllen. Eine Kopfschmerztablette ist sogar viel billiger als eine Eintrittskarte in die Oper und sie täuscht - im Gegensatz zur "Stimmakrobatik" - nicht vor, den Benutzer in den Zustand "eines höheren geistigen Lebens" zu versetzen.

Den metaphysischen Anspruch der Kultur untersucht Gustavo Bueno in der systematischen Studie mit dem Titel Der Mythos der Kultur, mit dem jetzt erstmals ein Buch Buenos auf Deutsch erschienen ist. Bislang dürfte der 78-jährige Philosoph bestenfalls dem deutschsprachigen Fachpublikum bekannt sein, da Bueno für die Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften einige Einträge verfasste. In Spanien ist Bueno als Gründer der philosophischen Zeitschrift El Basilisco, als gefragter Teilnehmer an öffentlichen Debatten und vor allem als Begründer und Urheber eines sehr stichhaltigen und kohärenten philosophischen Systems bekannt, dem "philosophischen Materialismus". Der emeritierte Professor arbeitet seit 1998 mit rund dreißig Mitarbeitern und Schülern an seiner Akademie, der Fundación Gustavo Bueno, die auch als "Schule von Oviedo" bezeichnet wird, mit diesem System in verschiedenen Bereichen der Wissenschaften oder der Philosophie. Charakteristisch für den philosophischen Materialismus ist die kritische, dialektische und häufig auch polemische Auseinandersetzung mit der Realität, dem "ontologischen Material", und eine radikale Umdeutung der Ideen der "Welt", der "Seele" und "Gottes", die auf drei verschiedenen Arten von Materialität fußen: die der physischen Phänomene, die der psychischen und gesellschaftlichen und schließlich diejenige der logischen und theologischen Phänomene.

Die Ideen - so Bueno - sind damit weder vom Himmel gefallen, noch schwirren sie im Äther umher; sie haben eine Geschichte, die es zu untersuchen gilt. Wie agieren Mythen, Institutionen, kulturelle Gebilde, fragt Bueno, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, darüber hinaus auch das Funktionieren von Wissenschaften zu hinterfragen: Was ist die Wissenschaft? Was ist Bioethik? Was ist die Anthropologie? Was ist Natur? Was ist Kultur? Dabei wendet sich Bueno mit seinem Denksystem zudem gegen die "spiritualistischen" Ansätze, mit denen er die Philosophie des Geistes meint.

In Der Mythos der Kultur stellt Bueno dar, wie im 19. Jahrhundert, ausgehend von den Ansätzen deutscher Philosophen - Bueno bezieht sich vor allem auf Herder, Fichte und Hegel - die Idee der Kultur entstanden und wie sie bis heute strukturiert ist. Eine entscheidende Verselbständigung der Idee der Kultur, "ihre Substanzialisierung", macht Bueno in der kleinbürgerlichen Gesellschaft aus, wenn der Begriff "Kultur" die Konzepte wie Ausbildung, Erlernen und Aneignen verdrängt und im Sinne einer geistigen "Kultivierung" verstanden wird, bei der es weniger um das Erlangen bestimmter Fähigkeiten geht, als vielmehr um soziale Abgrenzungsmechanismen. Bueno führt das "kultivierte Fräulein" an und fragt, warum es ausgerechnet Klavier und Französisch, nicht aber Hebräisch und Akkordeon lernen musste? Die Gesellschaft gibt die jeweiligen Parameter vor, durch die eine vermeintliche "Kultiviertheit" gesteuert wird, die zugleich den Zugang zu einer bestimmten Schicht oder Gruppe verspricht und darüber hinaus eine Art geistiger Erhöhung.

Bueno kommt zu dem Schluss, dass sich die Idee der Kultur als Nachfolgerin der im christlichen Mittelalter geläufigen Idee des Gnadenreiches etabliert hat: "Das Reich der Kultur war dazu bestimmt, die Funktionen des von ihm ausgeschalteten Reiches auszuüben, nämlich die Funktionen des heilenden Prinzips, des erhebenden und heiligmachenden Prinzips." Wo einst ein Priester stand, tanzt heute Michael Jackson oder singt eine Operndiva. Die Idee der Kultur verleiht - laut Bueno - simplen Handlungen ein maßloses und irrationales Prestige, legt Identitäten fest, politische Spielräume und neue Staaten. Bueno erwähnt in diesem Zusammenhang immer wieder die separatistischen Strömungen in Spanien. Dass das Konzept der Nationalkultur oder Staatskultur nicht nur einschläfernd ist, sondern auch gefährlich, liegt dabei auf der Hand.

Die Übersetzung von Der Mythos der Kultur verfasste Nicole Holzenthal, die selbst zum Team der "Schule von Oviedo" gehört und zu Buenos Studie eine sehr hilfreiche Einführung verfasst hat. Darüber hinaus wurde das Glossar um einige wichtige Einträge erweitert, so dass dem deutschsprachigen Leser damit ein relativ leichter Einstieg in Buenos komplexes Denken ermöglicht wird. (Gabriella Vitiello)

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Clifford, James/Marcus, George E.. 1986. Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press.

Inhalt: Vorwort (Clifford/Marcus); "Introduction: Partial Truths" (Clifford); "Fieldwork in Common Places" (Mary Louise Pratt); "Hermes' Dilemma: The Masking of Subversion in Ethnographic Description" (Vincent Crapanzano); "From the Door of His Tent: The Fieldworker and the Inquisitor" (Renato Rosaldo); "On Ethnographic Allegory" (Clifford); "Post-Modern Ethnography: From Document of the Occult to Occult Document" (Stephen A. Tyler); "The Concept of Cultural Translation in British Social Anthropology" (Talal Asad); "Contemporary Problems of Ethnography in the Modern World System" (Marcus); "Ethnicity and the Post-Modern Arts of Memory" (Michael M. J. Fischer); "Representations Are Social Facts: Modernity and Post-Modernity in Anthropology" (Paul Rabinow); "Afterword: Ethnographic Writing and Anthropological Careers" ; Bibliographie/Zu den Autoren/Index.

Kommentar: Der im Titel pointiert zum Ausdruck gebrachte Richtungswechsel innerhalb der Humanwissenschaften, der heute als "linguistic turn" bezeichnet wird und die Betonung des rhetorisch Inszenierten gegenüber dem vermeintlich authentisch Dokumentierten meint, wird in Cliffords Einführung in markanten Sätzen wie folgt charakterisiert:
"We begin, not with participant-observation or with cultural texts (suitable for interpretation), but with writing, the making of texts. No longer a marginal, or occulted, dimension, writing has emerged as central to what anthropologists do both in the field and thereafter. The fact that it has not until recently been portrayed or seriously discussed reflects the persistance of an ideology claiming transparency of representation and immediacy of experience. Writing reduced to method: keeping good field notes, making accurate maps, 'writing up' results.
The essays collected here assert that this ideology has crumbled. They see culture as composed of seriously contested codes and representations; they assume that the poetic and the political are inseparable, that science is in, not above, historical and linguistic processes. They assume that academic and literary genres interpenetrate and that the writing of cultural descriptions is properly experimental and ethical. Their focus on text making and rhetoric serves to highlight the constructed, artificial nature of cultural accounts. It undermines overly transparent modes of authority, and it draws attention to the historical predicament of ethnography, the fact that it is always caught up in the invention, not the representation of cultures." (2)
Clifford erläutert im folgenden die Bedeutung des Begriffs "Fiktion" , der nicht im Sinne von "Unwahrheit" zu verstehen sei - vielmehr: "It suggests the partiality of cultural and historical truths, the ways they are systematic and exclusive" . (3) Eine Anekdote zitierend, schreibt er: "I'm not sure I can tell the truth... I can only tell what I know." (8) Mit Bezug auf das Schlagwort "true fiction" fordert Clifford, das im lateinischen fingere enthaltene Changieren zwischen "konstruieren" und "konstituieren" aufrechtzuerhalten und das Oxymoron nicht auf die banale Aussage zu reduzieren, daß Wahrheiten Konstrukte sind.
Die Literalität der Ethnographie beschränkt sich nicht auf den guten Schreibstil des jeweiligen Autors, sondern greift bereits bei der Sammlung von Fakten. "Literary processes - metaphor, figuration, narrative - affect the ways cultural phenomena are registered, from the first jotted 'observations' to the completed book, to the ways these configurations 'make sense' in determined acts of reading. [...] The literary or rhetorical dimensions of ethnography [...] are active at every level of cultural science." (4) Mit der Erkenntnis, daß auch die besten ethnographischen Texte lediglich systematisch oder ökonomisch - Stichwort: "one cannot tell all" - generierte Wahrheiten exponieren und die Arbeit des Ethnographen folglich grundsätzlich als partial, d. h. als partiell und parteiisch, zu klassifizieren ist, führt nun aber nicht zum Zusammenbruch klar definierter standards of verification. Mag die Ethnographie auch eine Sandburg sein, so ist sie doch kein Luftschloß. Clifford führt die Monographie von Richard Price, First-time: The Historical Vision of an Afro-American People, als Beispiel dafür an, daß politische und epistemologische Befangenheit ("acute political and epistemological self-consciousness" ) nicht automatisch zu einer Pattsituation ("ethnographic self-absorption" ) oder zur Mutlosigkeit führen muß ("the conclusion that it is impossible to know anything certain about other people" ) (7) - eine positive Sicht der Krise der Ethnographie, die gegen Ende von Cliffords Aufsatz noch einmal wiederkehrt: "The rigorous partiality I have been stressing here may be a source of pessimism for some readers. But is there not a liberation, too, in recognizing that no one can write about others any longer as if they were discrete objects or texts? And may not the vision of a complex, problematic, partial ethnography lead, not to ist abandonment, but to more subtle, concrete ways of writing and reading, to new conceptions of culture as interactive and historical?" (25)
Bis zur Auflösung der, bewußt oder unbewußt, imperialistisch auftretenden Ethnographie alter Schule - die der nicht-westlichen Welt die Funktion eines Kulturen-Zoos zuwies, in dem sich die europäischen oder amerikanischen Wissenschaftler(innen) nach Gutsherrenart ergehen konnten - und ihrer Ablösung durch eine relational konzipierte Neue Ethnographie war es allerdings ein langer Weg. Die "crise de conscience" setzte mit dem Zusammenbruch der Kolonialherrschaft in den Jahren 1950 bis 1960 ein. War die ethnographische Praxis bis dahin von der ungleichen Machtverteilung zwischen Kolonisierern und Kolonisierten geprägt, wobei erstere die Regeln vorschrieben, nach denen gespielt wurde, so traten nun einheimische Ethnographen auf den Plan, die neue Spielregeln aufbrachten, geeignet, dies monolithische System ins Wanken zu bringen: "[...] what has emerged from all these ideological shifts, rule changes, and new compromises is the fact that a series of historical pressures have begun to reposition anthropology with respect to its 'objects' of study. Anthropology no longer speaks with automatic authority for others defined as unable to speak for themselves ('primitive', 'pre-literate', 'without history'). Other groups can less easily be distanced in special, almost always past or passing, times - represented as if they were not involved in the present world systems that implicate ethnographers along with the peoples they study. 'Cultures' do not hold still for their portraits." (9-10)
Diese Entwicklung fand Unterstützung in einer verstärkten theoretischen Auseinandersetzung mit den Grenzen der Repräsentation von Seiten der Hermeneutik, des Strukturalismus, der Mentalitätengeschichte, des Marxismus, der Genealogie, des Poststrukturalismus, der Postmoderne, des Pragmatismus sowie zahlreicher alternativer Epistemologien feministischer, ethnischer oder nicht-westlicher Ausrichtung. (10) Semiotik, Rhetorik und Diskursanalyse taten ein übriges.
Schließlich fiel auch das Primat des Visuellen, das mit dazu beigetragen
hatte, die stilisierte, harte Trennung von (westlichem) Betrachter-Subjekt und (nicht-westlichem) 'Gegenstand' aufrechtzuerhalten: "The predominant metaphors in anthropological research have been participant-observation, data collection, and cultural description, all of which presuppose a standpoint outside - looking at, objectifying, or, somewhat closer, 'reading', a given reality. [...] Once cultures are no longer prefigured visually - as objects, theaters, texts - it becomes possible to think of a cultural poetics that is an interplay of voices, of positioned utterances. In a discursive rather than a visual paradigm, the dominant metaphors for ethnography shift away from the observing eye and toward expressive speech (and gesture). The writer's 'voice' pervades and situates the analysis, and objective, distancing rhetoric is renounced." (11-12)
In der via Dialogizität erreichten Polyphonie ethnographischen Schreibens heute, beispielhaft repräsentiert in der fünfbändigen Edition (1982 ff.) von James Walkers The Sun Dance (1917), die neben der eigentlichen Monographie vier Materialbände umfaßt, zeigt sich für Clifford ein Weg, die 'Lügen' kanonisierter, monologisch geglätteter Texte offenbar zu machen. (15-17) Gewiß kann selbst der aufgeklärteste Ethnograph diese 'Lügen' nicht vermeiden - kein Mensch lebt im Machtvakuum -; durch Hervorhebung der Konstruktion wird er sie aber zu entschärfen wissen. Erst die extreme 'Künstlichkeit' (Gemachtheit) einer hoch selbstreflexiven, kritisch-gebrochenen Schreibweise wird etwas von der Authentizität realisieren, die die souverän erzählten Arbeiten einer Margaret Mead und anderer nur vorspiegeln konnten. (M.R.)

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Eagleton, Terry. 2001. Was ist Kultur?. München: C.H. Beck.

Schlagwörter: Begriff, Begriffsgeschichte, Natur und Kultur, Internationalismus, Kulturkrieg

Abstract: Original-Titel: The Idea Of Culutre. Terry Eagleton ist heute einer der führenden Intellektuellen Großbritanniens. In seinem neuesten Werk zeigt er die Bedeutung des Kulturbegriffs im geschichtlichen, philosophischen und politischen Kontext. Er analysiert die unterschiedlichen ästhetischen und politischen Kulturströmungen heute und entwickelt eine eigene Vorstellung von Kultur, die dem Aspekt des Gelebtwerdens, dem Alltäglichen von Kultur einen größeren Raum gibt. "Kultur" ist in aller Munde. Aber was ist Kultur? Eine Magazin-Rubrik oder die "Einheit des künstlerischen Stils ... eines Volkes" (F. Nietzsche); "erlesenes Getue" (L. Marcuse) oder ganz einfach eine "künstlich erzeugte Illusion" (W. B. Yeats)? Kultur setzt sich im allgemeinen Verständnis ab von Natur, aber erinnert der Kulturbegriff in seinem Ursprung nicht gerade an das Materielle, an das, was bebaut und gepflegt wird, den Acker, die Erde? Dieses Buch führt ein in die unterschiedlichen Aspekte, was uns Kultur bedeutet, was wir mit Kultur anderen bedeuten wollen, und welchen Unterschied es macht, von der Kultur einen Blick auf andere Kulturen zu werfen. Es gibt einen Überblick über die Geschichte des Begriffs, diskutiert die Gründe für die aktuelle Überbetonung und versucht einen Kulturbegriff zu entwickeln, der sich nicht an dominant hochstehend und banal, klassisch und unterhaltend orientiert. Leicht und witzig geschrieben, bietet dieses Buch nicht nur eine Horizonterweiterung unseres Kulturverständnisses, sondern auch eine intellektuelle Lockerungsübung, die man nur empfehlen kann. Aber Achtung, Aldous Huxley hat uns gewarnt: "Die Kultur ist ein sehr dünner Firnis, der sich leicht in Alkohol auflöst." (Verlagstext)

Rezensionen: Mayer, Ruth. 2001. Literaturen, 9, 98-99; und: Heidbrink, Ludger. 2001. DIE ZEIT, 40, 45.

Kommentar: Kritik am Kulturbegriff, der im westlichen Verständnis zu universell und in Stammesgemeinschaften und Sub-Kulturen zu partikularisch gefasst wird. Nach Eagleton hängt die Zukunft der Kultur davon ab, inwieweit es ihr gelingt, aus der Sackgasse der Identitätspolitik und Daseinsverschönerung herauszukommen und neue soziale Gemeinsamkeiten zu erzeugen. Die Kultur muss wieder zu einem Medium ‚immanenter Kritik' werden, indem sie ‚der Gesellschaft den Spiegel vorhält und sie an Normen misst, die sie selbst hervorgebracht hat'. Dabei mangelt es den Ausführungen jedoch an konkreten Gegenkonzepten, die einen Weg aufzeigen, wie die Kultur ihren ursprünglichen Charakter als ‚Spiegel der Gesellschaft' wiedergewinnen könnte. (M.M.)

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Erd, Rainer u.a. (Hgg.). 1989. Kritische Theorie und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Stichwörter: Kritische Theorie, Praxis und Praxisrelevanz der Kritischen Theorie, kulturelle Produktion, Antagonismus von Kunst und Kulturindustrie

Abstract: Alle Autoren dieses Bandes stehen nicht für den mainstream des in den letzten Jahren aufgebauschten Kulturbetriebs, sondern versuchen, Sperrgut zu produzieren, das diesen in Frage stellt. Als inhaltliche Gemeinsamkeit schält sich aus diesen Beiträgen das Festhalten an den essentials der Kritischen Theorie heraus. (Aus der Einleitung). Die in diesem Band enthaltenen Beiträge von Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten und Politikern sind erste Reflexionen (1989) über Entwürfe einer Theorie, die paradoxerweise die Beeinflußbarkeit der "verwalteten" Welt weitgehend ausschloß.

Kommentar: Unter verschiedenen Aspekten (medienwissenschaftlich, historisch, soziologisch, technisch, künstlerisch) wird die Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie auf Kunst, Kultur, Industrie, Individuum und Gesellschaft und deren Interdependenzen beleuchtet. (M.M.)

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Geyer, Carl-Friedrich. 1994. Einführung in die Philosophie der Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Textauszug: Von der Philosophie als einer Orientierungswissenschaft sui generis zu sprechen ist angesichts des ungebrochenen idealistischen Erbes der Geisteswissenschaften eine zwar verständliche, aber doch auch offensichtliche Überforderung. Auf sie reagiert bezeichnenderweise eine Unterforderung, die gegenwärtig unter anderem in der sogenannten Kompensationstheorie ihren Ausdruck findet. Dadurch, daß diese die Geisteswissenschaften als ‚Akzeptanzwissenschaften' in den unterschiedlichen Modernisierungsprozessen nur zum Schein aufgehen läßt, sie aber in Wahrheit mit Legitimationsabsichten den von politisch-kulturellen Zwecksetzungen befreiten technokratischen Modernisierungen hierarchisch verordnet, wird die beschworene Orientierungsfunktion zu einem bloßen Wort. Wenn Kultur, reflexiv geworden, wesentlich darin besteht, innerhalb einer bestimmten Zivilisation - in diesem Falle der technisch-wissenschaftlichen - Grundorientierungen im Blick auf Identitätsbildung und Identitätsbewußtsein auszubilden, dann kann hinsichtlich der sich selbst in dieser Weise verstehenden Geisteswissenschaften nur von einer partiellen, und das heißt hier affirmativen Orientierung die Rede sein. Zwar machen sie die technisch-wissenschaftliche Welt dem Menschen im Sinne applaudierender Zustimmung verstehbar. Diejenigen Selbst- und Weltverhältnisse, die neben unmittelbarer Daseinsdeutung auch Maßstäbe der Kritik vorgeben, werden dabei jedoch ausgeblendet. Haben die Geisteswissenschaften mit dem Ende des logozentristischen Systemdenkens ihre Entscheidungskompetenz verloren, so verlieren sie in ihrer Reduktion auf simple Akzeptanzforschung zusätzlich auch ihre Urteilsfähigkeit. Es bleibt eine vage Wahrnehmungsfähigkeit. Noch W. Dilthey, einer der Begründer der modernen Geisteswissenschaften, betonte, daß diese die Erkenntnis dessen, was ist, mit derjenigen dessen, was sein soll, verknüpfen. Die aus dem Willen entsprungenen Ordnungen werden in diesen Wissenschaften nicht nur erkannt als das, was sie sind, sondern auch im Sinne ihrer Zwecke geregelt. Wahrheit und Falschheit genügen daher keineswegs als Kriterien geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Sie beschreiben lediglich Vorgegebenes, fragen aber nicht nach den jeweiligen normativen Absichten, die nach den Kriterien von richtig oder unrichtig beurteilt werden müssen. Hier steht Akzeptanz gegen Relevanz. Zwischen Hyperrationalisierung [die Geistes-'Wissenschaft'] einerseits und simpler Akzeptanz kontingenter Wirklichkeiten andererseits bezeichnet den Ort der Philosophie im Sinne solcher Orientierung die sowohl integrative wie grenzüberschreitende Analyse der Kultur, wobei "Kultur" für den Inbegriff aller menschlichen Arbeit [theoretischer wie praktischer Natur] sowie aller aus ihr ableitbaren Lebensformen steht. Die einzelnen Fachwissenschaften als Ergebnisse solcher Arbeit sind dabei selbstredend einzubeziehen. Nicht die erkenntnistheoretische oder wissenschaftsanalytische Begründung dieser Wissenschaften macht sie zum Gegenstand philosophischen Nachdenkens, sondern ihre Teilhabe an der kulturellen Form der Welt, das heißt der Weise, in der "Welt" überhaupt "gegeben" ist. (111-112)

Kommentar: Auf knapp 160 Seiten, zuzüglich 30 Seiten Anmerkungen sowie einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem Personenregister, bietet Geyer ein Kompendium der Reflexion über Kultur (vor allem) im 19. und 20. Jahrhundert. Dem komplexen ersten Teil, der unter den Überschriften "Zur Phänomenologie des Kulturbegriffs", "Problematisierungen: Zwischen konservativer Kulturkritik und Postmoderne" und "Kulturphilosophie als reformulierte Transzendentalphilosophie" in das Thema einführt, folgt ein "Positionen" betiteltes Kapitel, das "auf unterschiedlicher Ebene [den] Zusammenhang von Kultur und Kritik sichtbar" machen soll (3) - und dies auch leistet. In Einzeldarstellungen geht Geyer darin auf Franz Overbeck, Georg Simmel, Arnold Gehlen, Theodor W. Adorno, Peter Weiss, Pier Paolo Pasolini und Peter Sloterdijk ein; die thematische Spannweite umfaßt den "Gegensatz von Christentum und Kultur" ebenso wie den "Rekurs auf das Unbegriffliche" oder die Opposition "Ästhetizismus versus gesellschaftliche Praxis". Dem historischen Blick auf Positionen folgt die politische Diskussion von "'Kultur' im Kontext gegenwärtiger Selbst- und Weltverhältnisse": "Orientierung durch Philosophie?", "Das prognostizierte 'Ende der großen Entwürfe'", "Zum Stichwort 'Fundamentalismus' und "Anmerkungen zu Theorie und Praxis multikultureller Gesellschaften" lauten einige der von Geyer aufgegriffenen Themen. Der Schluß des Buches ist Überlegungen zu "Lebensorientierung und Handlungsnormierung im Kontext konkurrierender Kulturbegriffe" reserviert. Hier verweist der Autor noch einmal explizit auf das praktische Interesse, das Philosophie als ein "Diskurs auf der Grenze" verfolgt: "Es geht hier, wie in aller diskursiven Aufnahme der Wirklichkeiten, in denen wir leben, um die aristotelische Frage nach dem gelungenen Leben" (154).
Geyers Einführung in die Philosophie der Kultur, in der neben den oben Genannten, und zum Teil in größerem Umfang als diese, Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Jacob Burckhardt, Ernst Cassirer, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Friedrich Nietzsche, Heinrich Rickert, Max Weber, Martin Heidegger, Hans Blumenberg, Jean Baudrillard, Jürgen Habermas und andere zu Wort kommen, zeugt von stupender Sachkenntnis; sie ist in einem nüchtern-kritischen Ton abgefaßt, fair, dabei keineswegs neutral. Das Einzige, was sich dem Buch vielleicht vorwerfen läßt, ist, daß es für eine "Einführung" stellenweise einen zu hohen Schwierigkeitsgrad aufweist; doch die Scheu vor der Anstrengung des Lesens verbietet sich bei einem (potentiellen) Standardwerk wie diesem. (M.R).

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Gil, Thomas. 1990. Kulturtheorie. Ein Grundmodell praktischer Philosophie. Frankfurt am Main: R. G. Fischer.

Schlagwörter: Kulturtheorie, Geschichtsphilosophie, Handlungstheorie, Ästhetik, Vernunft, Hegel, P. Bürger, P. Bourdieu

Abstract: Die Arbeit will ein paradigmatisches Grundmodell praktischer Philosophie zur Diskussion stellen, innerhalb dessen eine begrenzte verallgemeinerungsfähige, mehr als formale und den thematisierten Sachverhalten angemessene Vernunft-, Geschichts- und Handlungskonzeption entwickelt werden kann. Die Kulturtheorie versteht sich als Nachfolgetheorie der Geschichtsphilosophie. In einer entteleologisierten Vernunft sieht sie das praktische Grundvermögen der menschlichen Gattung, durch das Kultur und kulturelle Formationen entstehen, und die reflexive Gattungskompetenz, die eine Thematisierung der entstandenen Kulturgebilde und -sphären allererst ermöglicht.

Kommentar: Die Vernunft wird als Grundinstanz gesehen, von der aus Begriffe wie ‚Kulturwelt' und ‚kulturelle Formation' bestimmt werden können, wodurch der Begriff der ‚Kultur' aus einer rein schöngeistigen Fessel gelöst und in einen prozessualen Kontext mit der geschichtlich wirkenden Vernunft gestellt wird. (M.M.)

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Hanrahan, Nancy Weiss. 2000. Difference in Time: A Critical Theory of Culture. Westport, London: Praeger.

Kommentar: Hanrahan, Jahrgang 1954, außerordentliche Professorin für Soziologie an der George Mason University, begann die Arbeit an diesem Buch, als sie noch Programmleiterin von New Jazz at the Public war, einer Konzertreihe für Jazz und experimentelle Musik in New York.
In fünf Kapiteln - "Autonomy" , "Contingency" , "System" , "Critique" und "Beyond Dialectics" - die durch Vorwort, Einleitung, Bibliographie und Index ergänzt werden, setzt es sich die Autorin zum Ziel, Adornos und Horkheimers Kritische Theorie mit Kontingenzbewußtsein und Systemtheorie zu verbinden. Diese synkretistische Allianz zwischen Frankfurt, Paris und Bielefeld erachtet sie als notwendig, um den während zweier Jahrzehnte Postmoderne lahmgelegten Theoriebereichen ästhetische Kritik und Kulturkritik wieder auf die Sprünge zu helfen. Deren Notwendigkeit und Legitimität in Frage zu stellen, beruhte keineswegs auf unlauteren Gründen, wie Hanrahan anmerkt, im Gegenteil: "The argument against critique, within the academy and without, is that it is inconsistent with both democratic political ideals and egalitarian notions of culture. It has been called elitist, unpatriotic or simply indefensible, particularly when it comes to art and culture." (X) Die möglichst unparteiische Wahrnehmung dessen, was im weiteren Sinne unter dem Begriff Kultur subsumiert werden kann, hat aber zu einer Entpolitisierung geführt; unter dem Deckmantel der political correctness gedieh der Antiintellektualismus: "The attack on critique and on institutions that further it is an attack on all forms of endeavor (including scientific research, aesthetic innovation and political activism) that proceed by generating different and potentielly more complex understandings of the world, which are then subject to further critique and revision." (X) Wie weit wir uns inzwischen dem Pol der Unterkomplexität angenähert haben, zeigen nicht nur, um ein vergleichsweise harmloses Beispiel zu nennen, die Musikprogramme der Radio- und Fernsehstationen, sondern auch - ganz aktuell und weitaus gravierender - die US-amerikanische Politik, die nach dem Muster des klassischen Westerns nur mehr zwischen zivilisierten 'guten' Staaten einerseits und der barbarischen 'Achse des Bösen' andererseits unterscheidet und militärische 'Operationen' als das Nonplusultra der Friedenspolitik ansieht.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist Hanrahans Plädoyer für die Reinthronisation einer Kritischen Kulturkritik ausdrücklich zu begrüßen. Dabei stellt sich die Frage nach deren Konzeptualisierung, gilt es doch, den Fehler der falschen Perspektivierung (europäische Standards für universell auszugeben) zu vermeiden, ohne darum in den vielleicht schlimmeren Fehler der Standpunktlosigkeit zu verfallen, der mit Kritik unvereinbar ist. Die Autorin skizziert ihren Ansatz wie folgt: "The notion of contingency as a form of differentiation, complexity as a description of social systems and temporality as constitutive of sociology's subject matter are newly applied to the question of critique using components of contemporary systems theory." (9)
Als Ausgangspunkt der Theoriebildung firmiert Adorno, dem als Korrektiv Luhmann zur Seite gestellt wird: "In a sense, I use Luhmann's work to rescue Adorno's from the problem of reification, and to fulfill the promise of his critical theory of culture." (11) Hanrahan erweist sich als Adeptin des cartesianischen radikalen Zweifels, wenn sie den Makel der reification als hinreichend ansieht, um Adornos Modell der durch Autonomie begründeten Differenz zu verwerfen und durch ein auf Kontingenz fußendes Modell zu ersetzen. Im Eingangskapitel ihres Buches, in dem sie das Autonomiekonzept der Frankfurter Schule einer kritischen Würdigung unterzieht, gibt Hanrahan Adorno selber die Schuld daran, daß die dynamisch konstituierte dialektische Methode in der Praxis einen mitunter starren und dogmatischen Charakter annahm; sie erinnert in diesem Zusammenhang an Adornos These, wonach Massenkultur, im Gegensatz zur 'hohen Kunst', kein Potential für kritische Reflexion biete (20): "The original form in which the distinction of autonomy was articulated was the negative dialectic. It is a highly unstable form, in that the distinction between art and society, between aesthetic form and social structure, between autonomous institutions and social steering mechanisms, is always in flux. In Adorno's work, autonomy had to be repeatedly marked out; it was never institutionally or cognitively resolved. Furthermore, it is precisely because autonomy is always contingent that it can be productive of the kind of tension on which critique depends. If the autonomy of thought, subjectivity, or institutions was settled once and for all, if it were safely distanced from the context of society, critique would be irrelevant. Yet autonomy has been both construed by its critics and deployed by theorists, including Adorno himself, as a stable category." (21)
Ihr Clou - das Denken in Gegensätzen - geriet der Kritischen Theorie somit zur Crux.
Das Kontingenzkonzept, dem sich Hanrahan im folgenden widmet, wird von ihr ausdrücklich nicht-relativistisch gedeutet: "The structure of contingency as a difference between what is and what could be (or could have been) corresponds with the distinction between the actual and the potential that is the basis of critique. In addition, contingency is a temporalized form of distinction, which works against the reification of aesthetic and critical categories as well as static conceptions of difference itself. Given that social processes and their outcomes are contingent, incorporating contingency into the structure of theory can enhance sociological analyses of, for instance, cultural production and social differentiation. It also serves in the development of new critical categories appropriate to the contingency of aesthetic objects, meaning and reception. Contingency is not incompatible with critique, but it does restructure its conventional forms." (39)
Es würde zu weit führen, Hanrahans (fruchtbare) Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Luhmann'scher Prägung anhand der Darstellung von Musik als gesellschaftlichem Subsystem (59-84) im Detail nachzuzeichnen. Generell ist festzuhalten, daß sich ihr Interesse auf drei Aspekte der Systemtheorie richtet, die oben bereits erwähnt wurden: "the notions of contingency as a form of differentiation, complexity as a description of social systems and temporality as a constitutive dimension of all social phenomena" (86), nicht aber auf die Systemtheorie als Ganzes: "Yet I am not proposing that systems theory can serve as a replacement paradigm for critical theory [...]" (86). Dies widerspräche auch ihrem eigenen kritischen Impetus, denn bewegte sich Adorno innerhalb einer jahrtausendealten philosophischen Tradition, in der die etymologischen Bedeutungen von "Kritik" , nämlich "scheiden" und "trennen" , "entscheiden" und "urteilen" , fest miteinander verknüpft waren und der Einsicht unfehlbar das Eingreifen folgte (man braucht nur an den Buchtitel Eingriffe. Neun kritische Modelle von 1963 zu denken), bleibt bei Luhmann allein das jeder Kritik entkleidete Trennen übrig. "Distinction serves not critique but indication - literally, pointing to something. [...] Distinction in Luhmann's model is not, as it was for Adorno, setting up a tension between oppositional concepts but rather deciding what things are, and most often making selections in accordance with what already is. As a consequence, although systems theory is based on distinction and articulates social systems as complex, the impulse to critique is neutralized." (95-96)
Einer Theorie, die sich weigert, praktisch zu werden, mag Hanrahan nicht folgen. Zum Schluß ihres Buches faßt sie noch einmal ihr, in Auseinandersetzung mit Frankfurter Schule, Postmoderne und Systemtheorie gewonnenes Konzept von Kritik zusammen:
"Critique necessitates both choice and risk. It is a process of making distinctions and judgments, of making choices. In Hannah Arendt's model of politics, and in the model of critique as it has been envisioned here, these choices are not made from a safe distance but in the presence of others. The risks include that of convincing or failing to convince others, of being proven right or wrong and of distinguishing oneself while still taking others into account. They also include the risk of uncertainty, of unknowable outcomes.
Complexity and contingency describe social structure and social process. Critique has to be formulated within this model if we are to do justice both to new conceptions of social reality and to ongoing social practice. Temporality is central to understanding how the space of alternatives continues to arise, even in unfavorable circumstances. Viewed against this, dialectics appears functionalist in that it is premised on binary rather than complex relations; although it recognizes temporal distinctions between what is and what ought to be, it is teleological rather than contingent. It makes choices but doesn't accept risk. On the other hand, postmodern theory grasps complexity but without the understanding that it necessitates choice; it recognizes contingency, but contingency is meaningless if no choices are being made.
Postmodernists have argued that the contingency and complexity of social organization and analytical categories signal the death of critique on the grounds that neither orthodox political commitments nor universal aesthetic categories any longer provide recourse to the truth. Cultural conservatives have said that without appeal to those standards, judgment is not possible, and the consequences for both politics and culture are dire. Contrary to both sets of predictions, contingency, complexity, and temporality can generate a critique premised on difference that involves both commitment and risk." (125-126)
Zur Exemplifizierung ihrer um Temporalität kreisenden Ideen ("Difference in Time" ), bietet sich Hanrahan - auch hierin dem Musiksoziologen Adorno verwandt - der Rückgriff auf die Musik an, die in umfassenderer Weise als z. B. die Literatur oder die Bildende Kunst an den zeitlichen Ablauf gebunden ist. Anders als bei Adorno ist Hanrahans musikalischer Horizont aber nicht durch den bürgerlichen Geschmack definiert: Waren bei ihm die konkurrierenden Referenzgrößen Schönberg und Strawinsky, so sind es bei ihr Miles Davis und Madonna ("a translation of money into music" , 114). Latin, Grunge und Hip Hop (Rap) stehen ebenso im Blickfeld ihrer Ausführungen, wie Paul Simon mit seinem Album Graceland von 1986, das Hanrahan als Beispiel für eine falsch verstandene 'Weltmusik' anführt.
Es spricht für die Autorin, daß sie sich nicht scheut, Kriterien für gute und schlechte Musik zu nennen; deren wichtigstes ist sicher das der - v. a. rhythmischen - Komplexität. Man braucht nur einen beliebigen Musiksender einzuschalten um festzustellen, daß sie Recht hat: die meisten Stücke sind im Viervierteltakt und haben Betonungen auf dem zweiten und vierten Taktteil. (M.R.)

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Haug, Walter. 1999. "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?". Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 69-93.

Kommentar: "Die Literaturwissenschaft hat in einem Maße Probleme mit ihrem Selbst-verständnis, wie dies für kein anderes Fach zuzutreffen scheint" lautet die phrase d'accès dieser skeptisch-kritischen Auseinandersetzung des Tübinger Mediävisten mit dem jüngsten Paradigma der Literaturwissenschaften: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft - ein Paradigma, das sich, so Haug, nahtlos an die "‚Als'-Metamorphosen" anschließt, zu denen die Literaturwissenschaftler "geradezu periodisch" ihr Fach "umetikettiert" haben, als da wären: "Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte, Literaturwissenschaft als Sozialgeschichte, Literaturwissenschaft als Psychoanalyse, Literaturwissenschaft als Ideologiegeschichte, Literaturwissenschaft als Mentalitätengeschichte". Den neuesten "Trend" nimmt Haug nun zum Anlaß zu fragen, warum "Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein" darf, d.h. eine Wissenschaft, "die eine ihrem Gegenstand, der Literatur, entsprechende Methode des Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen vermag" (69).
Er bringt für das "Defizit an Selbstbewußtsein" drei "Dilemmata" in Anschlag. (Dabei ließe sich das defensive Wort "Dilemma", das den Diskutanten von vornherein ins Unrecht setzt, ohne weiteres durch die sachlich-optimistische Fügung "dialektische Spannung" oder "dialektischer Prozeß" ersetzen.) Deren erstes besteht darin, daß der Literarhistoriker seiner Aufgabe, Literaturgeschichte zu betreiben, letztlich nicht gerecht werden kann, da er vornehmlich mit Werken der sogenannten ‚Höhenkammliteratur' befaßt ist, die sich geschichtlich nicht verrechnen lassen. Das zweite Dilemma ist eine Folge der strukturalistischen Wende mit ihrer Bevorzugung der Synchronie gegenüber der Diachronie und dem damit zusammenhängenden Verständnis von Literatur als einem System, das von anderen literarischen und außerliterarischen Systemen umgeben ist. Es stellt sich die Frage, ob das literarische System als Subsystem im kulturellen Gesamtsystem integriert und somit funktional ist, oder ob es sich als ‚Paralleluniversum' in (relativer) Autonomie zu diesem verhält, und wenn ja, welche Funktion es damit erfüllt. Haug stimmt zu, daß Literatur mit Nichtliteratur interagiert, warnt aber davor, ihr mit Methoden beikommen zu wollen, die nicht spezifisch literaturwissenschaftlich sind und sie letzlich ihrer Eigenart zu berauben drohen (69-70). Den grundsätzlichen Nutzen fachfremder Verfahrensweisen für die Literaturwissenschaft streitet er indes nicht ab. Das dritte Dilemma hängt mit der "Standpunktgebundenheit der eigenen Interpretation und damit [...] ihrer Überholbarkeit" (71) zusammen. Denn es gehört zur Kondition des Historikers, gleichviel mit welcher Art historischer Fakten er befaßt ist, Geschichte nur vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachten zu können, mit der Folge, daß die zwangsläufig verzerrende Perspektive auf das geschichtliche Objekt jeweils nur subjektive ‚Wahrheiten' zu befördern vermag. Zu diesem "hermeneutischen Zwiespalt" freilich, so Haug, muß sich die Literaturwissenschaft bekennen, will sie sich nicht "auf einen bloßen Faktenpositivismus zurückziehen und auf Interpretation verzichten" (71).
Nach diesen einführenden Bemerkungen zur schwachen Position der Literaturwissenschaft wendet sich Haug dem eigentlichen Thema seiner Einlassung zu, nämlich inwiefern die Integration der "in Mißkredit geratenen Geisteswissenschaften in eine übergreifende Kulturwissenschaft" zu einem "zukunftsträchtigen Selbstverständnis" der ersteren beitragen kann. Dabei, so Haug, müsse aber zunächst geklärt werden, was hier überhaupt unter Kulturwissenschaft zu verstehen sei, denn "von der Sache und der Methode her läßt sich sehr Verschiedenes darunter begreifen" (73). Im folgenden zeichnet er den Weg nach, der zum "kulturhistorischen Konzept" führte. Angefangen bei den Neukantianern Heinrich Rickert (1863-1936) und Wilhelm Windelband (1848-1915), die den ihrer Ansicht nach zu eng gefaßten Diltheyschen Begriff "Geisteswissenschaft" (vs. "Naturwissenschaft") - unter gleichzeitiger Wahrung seines Geltungsbereichs - durch den Neologismus "Kulturwissen-schaft" ersetzt sehen wollten, führt Haugs Rundgang zu den Stationen Allegorese, Annales-Schule (Nouvelle Histoire, Mentalitätsgeschichte), historische Anthropologie und New Historicism. Er verweist dabei auf die zentrale Bedeutung der Literatur(wissenschaft) für die jeweilige Herangehensweise. So heißt es in bezug auf die ‚Nouvelle Histoire': "Grundsätzlich gilt: die Vermittlung läuft immer - wenn man einmal von rein archäologischen Daten absieht - über die Schrift" (79). Die Darstellung der Geertzschen Methode der "Dichten Beschreibung" schließt mit dem Satz: "So nähert sich denn die ethnologische Analyse in verblüffender Weise der Interpretation eines literarischen Textes an. Eine Kultur wird gewissermaßen als eine Textmontage angesehen [...]" (81).
Der Kulturbegriff Geertz', fährt Haug fort, hebe dabei nicht auf "psychologische Phänomene" ab, sondern auf "einen Kontext von Zeichen, der aus seinem eigenen System heraus interpretiert werden" muß (82). Da aber Interpretation unabwendbar - wie eingangs dargelegt - die hermeneutischen ‚Geister' auf den Plan ruft (Stichwort "Standpunktgebundenheit" und "Überholbarkeit"), kann Haug feststellen: "Die Kulturwissenschaft Geertzscher Prägung präsentiert sich als eine Art erweiterter Literaturwissenschaft, und sie handelt sich damit all jene Probleme ein, mit denen wir Literaturwissenschaftler zu kämpfen haben" (82). Die Attraktivität, die die unter dem Signum der semiotischen Wende arbeitenden Kulturwissenschaften für Literaturwissenschaftler gleichwohl besitzen, sei es die ethnologische Kulturwissenschaft eines Clifford Geertz, sei es der - als Ergebnis der "Liaison zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft" beschriebene (83) - New Historicism eines Stephen Greenblatt, führt Haug auf die Tatsache zurück, daß beide Methoden die notorischen Dilemmata der Literaturwissenschaft auszuschalten vermögen. Nicht nur läßt das als "Produkt der jeweiligen kulturellen Situation" verstandene Werk seine Qualität als "kreative Leistung eines bestimmten Autors" in den Hintergrund treten, womit auch das Problem der geschichtlichen Verrechenbarkeit des ‚aus der Geschichte Gefallenen' erledigt wäre; auch die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie stellt sich nicht, "denn die Literatur besitzt keinen privilegierten Status mehr." Schließlich: die "prekäre Relativität des interpretierenden Zugriffs hat sich in postmoderne Unverbindlichkeit verwandelt, die Unsicherheit der Deutung ist zu einer fröhlichen Tugend geworden." Seine letztendliche Weigerung, dem Banner des New Historicism zu folgen, begründet Haug damit, daß ein zu hoher Preis daran geknüpft wäre: "Es ist der Verzicht auf Geschichte, der Verzicht auf das individuelle Werk eines individuellen Autors, der Verzicht auf die Literatur als ein System eigener Art und schließlich der Verzicht auf eine durch das hermeneutische Risiko hindurch wenigstens potentiell in den Blick tretende Wahrheit" (85).
Fragt sich nun, wie der Entwurf einer Literaturwissenschaft, die sich, gleich den Kulturwissenschaften, "von globalen historischen Modellen" (86) abgewendet hat, aussehen kann. Haugs Vorschlag ist folgender: "Es sollte nicht mehr vorrangig um die Frage nach irgendwelchen Gesetzlichkeiten im Spiel dessen gehen, was literarhistorisch konstant bleibt und was sich wandelt, das Hauptinteresse sollte vielmehr der Konstanz eines literarischen Konzepts als einer Leistung gelten, einer Leistung, die dem Inkonstanten, Gegenläufigen abgerungen ist und die diesen Prozeß noch zeichenhaft in sich trägt, oder schärfer gesagt: es geht um Entwürfe, die sich als literarische Konstrukte im Querfeld außer- und gegenliterarischer Erfahrungen nur halten, um sich in Frage zu stellen; die lebendig-gespannte Konstanz des Dichterischen im Spannungsfeld seines Wirklichkeitszusammenhangs soll den Vorrang haben vor dem bloßen Aufweis von thematischer und formaler Konventionalität, die zur Veränderung drängt" (86-87). Auf das literaturwissenschaftliche Interpretieren gemünzt heißt dies, "daß man [...] methodisch konsequent auf das zu achten hat, was in einer Erzählung nicht aufgeht, denn der Sinn liegt [...] letztlich in den Aporien" (89). Damit wendet sich Haug gegen "harmonisierende Deutungsversuche" (92) und führt auch gleich aus seinem Spezialgebiet, der mittelalterlichen Literatur, einige Beispiele dafür an (Chrétien de Troyes, Erec, Wolfram von Eschenbach, Parzival und Willehalm, Gottfried von Straßburg, Tristan, Wernher der Gartenaere, Helmbrecht) wie ein solches auf Dissonanzen abgestelltes Interpretieren aussehen kann. (M.R.)

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Heidenreich, Stefan. 1999. "Unterscheiden statt urteilen. Kritik als Differenzagent". Neue Rundschau, 2/1999, 33-43.

Schlagworte: Unterschiede in der Kultur, Kulturkritik als Unterscheidungsmerkmal, Staatskultur, Institutionskultur, Populäre Kultur

Abstract: Wie man über das spricht, was jeweils Kultur sein soll, hängt davon ab, welche Stelle die Kritik innerhalb des kulturellen Zusammenhangs einnimmt.Die Entwicklung von Komplexität vollzieht sich bei der Staatskultur in institutionalisierten Bahnen, bei der Pop-Kultur entwickelt sie sich entlang des Publikumsgeschmacks und der Publikumsreaktionen.

Kommentar: Die Unterscheidung guter von schlechter Musik macht für Heidenreich keinen Sinn, da diese Qualitätskategorie rein subjektiv ist, daher sucht er nach einem objektiven Unterscheidungsmerkmal, denn dass es Unterschiede ("E" und "U") gibt, ist für ihn unstrittig. Heidenreich geht daher von "zwei unterschiedlichen Sprachen der Kulturkritik" aus, wobei er zwischen Staatskultur und populärer Kultur unterscheidet (Kriterium sind z.B. die Förderung, die Institutionalisierung bzw. marktwirtschaftlicher Erfolg). (M.M.)

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Hetzel, Andreas. 2001. Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Stichwörter: Kulturbegriff, Grenzen der Kultur, kultureller Raum, kulturelle Zeit, Kultur als Metapher, Performativ und Affirmative Praxis, Handlungstheorie, C. Geertz, M. Foucault, P. Bourdieu, G. Simmel, W. Benjamin, M. Horkheimer, T.W. Adorno, C. Castoriadis, J. Baudrillard

Abstract: Vor dem Hintergrund des cultural turn fragt die Arbeit nach dem Verständnis von "Kultur", das die gegenwärtigen Kulturwissenschaften leitet. Der Autor kritisiert eine objektivistische und identitätslogische Ausrichtung der aktuellen Kulturtheorien. Statt Kultur weiterhin als musealen Traditionsbestand, Text, Archiv, symbolische Form oder Summe kultureller Güter zu konzipieren und sie somit letztlich zu naturalisieren, plädiert er für eine Lesart von Kultur als individueller, zwischen Poiesis und Praxis schwebender Tätigkeit, die Sinnhorizonte kritisch transformiert. Historisch knüpft er dabei an das Kulturdenken der deutschen Idealisten, Georg Simmels, Walter Benjamins, Theodor W. Adornos und Jacques Derridas an. In systematischer Hinsicht expliziert er den spezifischen Charakter kultureller Praxis über die Figuren einer selbstbezüglichen Negativität (Metapher), einer vorbildlosen Produktivität (Performativ) und eines zulassenden bzw. medialen Tuns (Affirmativ). Man kann die Überlegungen des Autors auch unter der Leitfrage zusammenfassen: Wie ist Kultur heute möglich? (Verlagstext)

Kommentar: Hetzel geht der Frage nach, was in einer Zeit in der alles (zumindest potenziell) zur Kultur geworden ist, dann eigentlich noch genuin kulturell ist. Die Entdifferenzierung des Kulturbegriffs läßt sich genau dann auflösen, wenn man kulturelle Differenz in die Kultur selbst einbringt, d.h. Kultur muss eine Differenz zu sich aus sich selbst heraus erzeugen. Kultur fällt dann zusammen mit der Kritik ihrer selbst. Ob, wann und was Kultur ist, kann nicht von außen oder vorab bestimmt werden, sondern muss sich immer wieder gleichsam von innen, aus jedem kulturellen Phänomen selbst heraus zeigen.Nicht über die Frage, was sie ist, lässt sich Kultur erschließen, sondern nur darüber, was sie tut. (M.M.)

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Konersmann, Ralf (Hg.). 2001. Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt. Leipzig: Reclam.

Stichwörter: Kulturkritik, Reflexionen, literarische Praxis, Studienbuch, Anthologie

Abstract: Obwohl die Kulturkritik als literarische und philosophische Praxis vielseitig zum Einsatz kommt, liegt bis heute keine Theorie der Kulturkritik vor - auch keine Geschichte oder eine Bestandsaufnahme, die zumindest die wichtigsten Namen und Fakten zusammentrüge. Diese Anthologie zieht erstmals eine markante Linie durch die theoretischen Bestände, benennt Zäsuren und dokumentiert eine kritische Theoriegeschichte der Kulturkritik. "Kulturkritik ist Kritik der Kultur im Namen der Kultur." Ein Studienbuch mit Texten von Roland Barthes, Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Johann Wolfgang Goethe, Max Horkheimer, Ralf Konersamnn, Diogenes Laertius, Friedrich Nietzsche, Jean-Jacques Rosseau, John Ruskin, Friedrich Schiller, Gustav Seibt, Georg Simmel. (Klappentext)

Kommentar: "Zeitreise" durch die Kulturkritik - verstanden als Kritik der Intellektuellen am jeweiligen Zeitgeschehen - anhand von ausgewählten Texten von Diogenes bis Cassirer. Die Kulturkritik wird als charakteristisch moderne Form der Weltbetrachtung gesehen - daher auch der Untertitel der Anthologie: Reflexionen in der veränderten Welt. (M.M.)

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Lipp, Wolfgang. 1994. Drama Kultur (2 Teile, Teil 1: Abhandlungen zur Kulturtheorie. Teil 2: Urkulturen, Institutionen heute, Kulturpolitik - Exemplarische Analysen). Berlin: Duncker & Humblot.

Schlagworte: Soziologie als Kultursoziologie, Kulturtheorie, Kulturpolitik

Abstract: Die Wirklichkeit als Drama zu verstehen, setzt die Bereitschaft zu interdisziplinärer Arbeit voraus. Dass Kultur dramatologisch strukturiert ist, erschließt sich nicht aus isolierten einzelwissenschaftlichen Perspektiven; es erschließt sich aus der Fächerüberschneidung, und neben Soziologie, der Psychologie (Sozialpsychologie) und den Politikwissenschaften sind es namentlich die Kulturanthropologie (Ethnologie, Volkskunde), die Kulturgeschichte, die Literaturwissenschaft, die den Beiträgen hier Tiefenschärfe geben.

Kommentar: Es geht darum, der Soziologie eine Dimension von Kultur zugrunde zu legen und diese Dimension dramatologisch zu entschlüsseln. Dabei dürfen "Gesellschaft" (und deren Struktur) und "Kultur" nicht antithetisch gegenübergestellt werden, sondern müssen in ihrer gegenseitigen Bedingung und Verknüpfung gesehen werden. (M.M.)

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Mahnkopf, Claus-Steffen. 1998. "Kritische Gesellschaftstheorie ohne Kulturkritik? Einlassung zum Arbeitsprogramm des Instituts für Sozialforschung". Zeitschrift für Kritische Theorie, 4, Nr. 7, 5-10.

Schlagwörter: Kritische Theorie, Kulturindustrie (Dialektik der Aufklärung),Habermas, Luhmann

Abstract: Frage: "Kann Kultur als Gegenstand der Forschung , Kulturkritik als integraler Bestandteil von Gesellschaftsanalyse ausgeklammert werden?"Mahnkopf bemängelt, dass das Arbeitsprogramm des Instituts für Sozialforschung kulturkritische Fragestellungen weitestgehend unberücksichtigt lässt. Zeigt vier Auswirkungen des Fehlens der kulturkritischen Fragen: 1. Demokratisches Persönlichkeitsmuster wird kaum auf seine gesellschaftspartizipatorische Kompetenz hin untersucht (Selbstvertrauen). 2. Intimbeziehungen werden nicht mit konkreten kulturellen Inhalten gefüllt. 3. Geschlechterverhältnis wird lediglich formal definiert (Freiheitsrechte). 4. Kulturkompetenz auf dem Gebiet der Arbeit

Kommentar: Einlassungen, aber keine Erörterung; keine eigenständigen Ansätze. (M.M.)

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Meier-Seethaler, Carola. 1989. Ursprünge und Befreiungen: Eine dissidente Kulturtheorie. Zürich: Arche Verlag.

Stichwörter: Gender, Patriarchat, Matrizentrismus, Psychoanalyse, Rollen-Stereotypen, Emanzipation, Kulturtheorie

Abstract: Taschenbuch ist erschienen mit dem Untertitel: "Die sexistischen Wurzeln der Kultur".Archäologische und ethnologische Untersuchungen förderten immer mehr Wissen über Lebensformen zutage, die entscheidend von Frauen geprägt waren - von Frauen, die nicht nur als Mütter, sondern geistig und organisatorisch im Zentrum kultischer und sozialer Zusammenhänge standen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit kulturhistorischen, ethnologischen und sozialpsychologischen Studien wagt die Autorin den eigenwilligen Entwurf einer neuen Kulturtheorie: Die menschliche Kultur hat, so ihre These, ihren Ursprung in matrizentrischen Kulturen, in denen die Autorität von Frauen nicht auf Herrschaft, sondern auf deren magisch-religiöser Aura beruhte.Das Patriarchat hat seinen Ursprung in der Rebellion der Männer gegen ihre anfängliche Zweitrangigkeit. Herrschaft, Krieg und Ausbeutung sind keine Grundbegebenheiten des menschlichen Lebens, sondern die Folgen männlicher Überreaktion und Kompensation. Befreiungen zur Partnerschaft nennt die Autorin die individuellen, politischen und kulturellen Konsequenzen einer Patriarchatskritik, deren Ziele sehr konkret und aktuell sind. (Verlagstext)

Kommentar: Meier-Seethaler erweitert die - aus ihrer Sicht - einseitig männlich und europäische Ausrichtung der Psychoanalyse um feministische und ethno-psychoanalytische Perspektiven. Hier beschreibt sie die Notwendigkeit der beiderseitigen Emanzipation, also sowohl des Mannes als auch der Frau - und liefert dabei nebenbei eine kleine (psychoanalytisch geprägte) Geschichte der Kulturtheorien. Sie charakterisiert Ansätze, die beim etablierten Patriarchat einsetzen, als zu kurz greifend und als zu spät ansetzend, da sie die (matrizentrische) Frühgeschichte außer Acht lassen. (M.M.)

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Müller-Funk, Wolfgang. 2001. "Kultur, Kultur. Anmerkungen zu einem Zauberwort". Merkur, 55/8, 717-723.

Kommentar: Das Asyndeton des Titels kündigt ein Problem vor allem der ersten Hälfte dieses Textes an. Dort werden die verschiedenen Konzepte von Kultur - des Begriffes und der Sache - unverbunden nebeneinandergestellt, ohne einen Versuch zu wagen, einen, im alten Sinne des Wortes, 'tüchtigen' Kulturbegriff daraus zu synthetisieren. Der bloße Aufweis des Faktischen mag als kompilatorische Arbeit verdienstvoll sein, bringt an sich aber keinen Erkenntnisgewinn.
Die zweite Hälfte des Aufsatzes widmet sich der Frage des sogenannten Multikulturalismus (im Sinne einer "Einheit in Vielfalt" [720]), dessen Realisierbarkeit Müller-Funk skeptisch beurteilt; den Abschluß bildet eine Rückblende auf den habsburgischen Vielvölkerstaat aus Anlaß der Teil-Wiederveröffentlichung des Kronprinzenwerks von 1886-1902, "einer[r] umfassende[n] Dokumentation aller Ethnien, Kulturen, Regionen und Landesteile der österreichisch-ungarischen Monarchie" (722) (Wien: Böhlau, 1999).
Das Wort "Kultur" kann, wie der Autor zu Beginn anmerkt, einerseits "ein kleines Segment [...], ein selbstreferentielles System im Sinne Luhmanns" bezeichnen, andererseits aber auch "das Ganze einer Gesellschaft" oder, in den Worten Eliots, "the whole way of life of a people, from birth to the grave, from morning to night and even in sleep", wozu dann selbstverständlich (aber es wird gerne unterschlagen) auch "Hunger, Leiden und Unterdrückung" gehören. Hinsichtlich einer dringend gebotenen Eingrenzung und Zuspitzung des Themenkomplexes erscheint Geoffrey Hartmans Beschreibung von Kultur (vs. Natur vs. Gesellschaft) als "anthropologischer Selbstbezug" dienlich; Müller-Funk faßt sie in die Formel: "Ohne Kultur ist man ein Niemand" (718). Hartmans Definition bietet nicht nur den Vorteil, im lokalen wie im globalen Umfeld zu gelten, sie ist auch anschließbar an das Konzept der Interkulturalität. "Kultur ist das Medium, das Identität dadurch produziert, daß es Differenz setzt" (718). Die Begegnung mit der Kultur der anderen ermöglicht die Vergewisserung über die eigene kulturelle Verfaßtheit: der "Blick des Fremden" auf die "Zivilgesellschaft" funktioniert für diese als "Reflexionsfigur" (722).
Die Festlegung von Kultur als "ein Insgesamt von Lebenshaltungen" (T. S. Eliot, Raymond Williams), verknüpft mit der Einsicht, daß das, was die Kulturen voneinander unterscheidet, "ihr gesamter [...] Habitus, jenes Ganze, das den klassischen Gegenstand der Ethnologie bildet" sei, führt Müller-Funk auf die Schlußfolgerung, in eben dieser - "freilich modifizierte[n]" - Ethnologie den Anwärter auf die Stelle der neuen "Leitwissenschaft" zu sehen. Sie wäre "insofern kritisch, als sie sich von der Vorstellung der guten Kultur und zugleich vom radikalen relativistischen Kulturalismus verabschiedet" (719).
Im folgenden kommt Müller-Funk auf den postmodernen Kulturalismus zu sprechen - Gegenkonzept zum "Universalismus" - der "entgegen seinem abgeklärten Gestus [...] eine verschwiegene Utopie" enthalte, welche außer "in fast allen Werken der angelsächsischen cultural studies" auch im (deutschen) "Multikulturalismus" ihren Niederschlag finde. An diesem äußert er starke Zweifel, nicht zuletzt auch an dem Urteil, wonach "Menschen mit mehrfacher nationaler Kodierung weniger anfällig für die aggressive Verwerfung des Anderen" seien (719). Die Crux des multikulturellen Programms liegt für Müller-Funk dabei vor allem in den "Ungleichzeitigkeiten", die aus dem "antagonistischen, das heißt unvereinbaren Verhältnis" der aufeinandertreffenden Kulturen "im Hinblick auf moderne, säkulare Gesellschaften" erwachsen (721). Das weitgehend friedliche Zusammenleben von Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund deutet er als Ergebnis von Indifferenz, nicht von Toleranz: "Zum Mißvergnügen vieler traditionalistisch gestimmter Einwanderer verhalten sich moderne westliche Gesellschaften gegenüber partikularen Kulturen zunächst einmal genauso gleichgültig wie gegenüber Religion oder Sexus. Weil sie das tun, nicht aufgrund eines toleranten Kulturalismus, leben Menschen fremder Herkunft wenigstens programmatisch unbehelligt bei uns" (722). Dementsprechend negativ lautet das Fazit: "Politisch betrachtet ist die Kultur im umfassenden Sinn mehr ein Problem als ein Hoffnungsträger, weil sie Differenz und Ungleichheit festhält, symbolisch markiert; als Selbst- wie als Fremdbild." Zum Schluß, von der Empirie zur Theorie zurückschwenkend, fordert Müller-Funk eine "skeptische Kulturwissenschaft": "weil nicht alles Kultur ist, muß nicht alles Gegenstand von Kulturwissenschaft sein" (723). Es ist dies eine mehr als vage Aufgabenbestimmung, die den Leser enttäuscht zurückläßt. Wenn am Ende das Banale steht, nützt auch das beste Problembewußtsein nichts. (M.R.)

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Nünning, Ansgar (Hg.). 1998. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: Metzler.

Schlagwörter: Nachschlagewerk, Überblicksdarstellung, Literaturtheorie, Kulturtheorie, Theoriebildung, , Medienkulturwissenschaft, Porträt

Abstract: Das "Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie" bietet mit mehr als 700 Artikeln einen kompakten Überblick über die Vielfalt der literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansätze. Es erläutert die zentralen Grundbegriffe und verschafft einen Zugang zu den Theoretikern, die die Debatten geprägt haben. Für die zweite Auflage wurde das Lexikon umfassend aktualisiert und um rund 130 Artikel erweitert, die aus verschiedenen Bereichen der Literatur- und Kulturtheorie, insbesondere aus der Medientheorie und der Geschichtstheorie, stammen oder aber interdisziplinäre und intermediale Aspekte der Theoriebildung berücksichtigen. Im Zentrum steht die moderne Literaturtheorie, die durch literaturgeschichtliche Überblicksartikel auch in ihrer historischen Entwicklung erschlossen wird. Neben textzentrierten und traditionellen Methoden wird eine Vielzahl von autoren-, leser- und kontextorientierten Ansätzen in einem internationalen und interdisziplinären Zusammenhang vorgestellt. Umfassend berücksichtigt werden vor allem kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze sowie neuere Entwicklungen wie Dekonstruktion, Diskurstheorie, feministische Theorien und Geschlechterforschung, Konstruktivismus, New Historicism, Mentalitätsgeschichte, postkoloniale Literaturkritik, Poststrukturalismus. In Form von Autorenporträts werden die wichtigsten Theoretiker/innen (von Aristoteles bis Hayden White) und ihre Werke vorgestellt. Die von ihnen geprägten Begriffe (von Appellfunktion bis Zirkulation) werden in über 350 Sachartikeln erklärt. (Verlagstext).

Rezensionen: "Dieses Lexikon ist eine nützliche Sache, eine Studienreform im kleinen, die einem in den achtziger Jahren manches ratlose Semester hätte ersparen können. Es gehört auf den Gabentisch jedes Erstsemesters." (Die Zeit)

"Was verdanken wir Walter Benjamin? Wie denken Dekonstruktionisten? Ist die Postmoderne wirklich tot? Hier steht´s. Nützlich." (Die Woche)

"Die schwierige Aufgabe, komplexe Zusammenhänge in wenige Zeilen zu pressen, ist gut gelöst ... ein Kompass in Form eines kompakten Lexikons." (Neue Zürcher Zeitung)

"Lexika sollten der übersichtlichen Vergegenwärtigung von in komprimierter Form präsentierten Fakten und Termini, Personen und Daten, kurz: von Wissen dienen. Das vorliegende Lexikon leistet dies und noch etwas anderes: Es verleitet zum Schmökern. Man mag es nicht mehr aus der Hand legen." (Referatedienst zur Literaturwissenschaft)

"Ein vorzügliches neues Nachschlagewerk .... viele gut sortierte und gebündelte Aufschlüsse ... ein ungemein praktisches Hilfsmittel." (Kölner Stadt-Anzeiger)

"Eine gut zugängliche und allgemein verständliche Informationsquelle ... der Aufbau des Lexikons ist glänzend durchdacht. ... Ein auf dem deutschen Buchmarkt geradezu überfälliges Nachschlagewerk, das bestens geeignet ist, zu einem unverzichtbaren Standardwerk zu werden." (Anglia)

"Man muß diesem Lexikon ein Lob machen, das für die Gattung nicht unbedingt üblich ist: Es ist ein intellektuelles Vergnügen, sich von Artikel zu Artikel zu lesen, im tatsächlichen Sinn darin zu lesen - selbst das ist mit Gewinn und Genuß möglich. Die inhaltliche Breite der Artikel, ihre geschickte Vernetzung, ihre gute Lesbarkeit, ausführliche Literaturangaben, das intelligente Konzept und der durchaus bezahlbare Preis lassen nur eine Empfehlung zu: Unbedingt anschaffen!" (Information Deutsch als Fremdsprache 27,2/3 (2000))

"Insgesamt ein hervorragend gemachtes, fast ist man versucht zu sagen, unverzichtbares Handbuch für jene, die sich mit den theoretischen Strömungen gegenwärtiger Kulturwissenschaft befassen." (Kea: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 12 (1999))

"Man darf es vorwegnehmen: rundum, bis in die gründlich geprüften Details hinein, hochwertig brauchbar, nützlich für viele Benutzergruppen (besonders avancierte Schüler, Studenten, Lehrer aber auch Fachfremde), die sich in der [...] Unübersichtlichkeit über gerade auch neueste Entwicklungen informieren können. [...] Als kritischer Benutzer hat man das Gefühl, in kompetente Hände geraten zu sein; man darf annehmen, daß es die Handschrift des Herausgebers ist, die für Niveau sorgt. Insgesamt für Verlag und Herausgeber (auch für die Benutzer): Congratulations!" (Wissenschaftlicher Literaturanzeiger 38,2 (1999))

"Es ist für alle in irgendeiner Form im Kulturbetrieb Engagierte - v.a. auch durch die Querverweise - ein geradezu spannend zu lesendes Buch, das ein anschauliches Panorama des aktuellen und internationalen kulturwissenschaftlichen ´Diskurses´ vermittelt." (Literatur in Wissenschaft und Unterricht XXXII,4 (1999))

"Insgesamt liegt hier ein nützliches, interessantes und gut lesbares Nachschlagewerk vor, dessen Anschaffung für Studierende unabdingbar ist, in dem aber auch Fortgeschrittene gerne und mit Gewinn blättern werden." (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40 (1999))

"Es ist uneingeschränkt zu empfehlen für alle diejenigen, die sich für Literaturwissenschaft und Kulturtheorie interessieren." (Der Fremdsprachliche Unterricht 43 (2/2000))

"Als einer geglückten Kombination von Autoren- und Begriffslexikon dürfte dem vielfältig anregenden, umfassenden und zugleich handlichen Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie ein Platz im unverzichtbaren Informationsbestand einer jeden Universitätsbibliothek, aber auch jeder größeren öffentlichen Bibliothek sicher sein." (IFB 7,1/4 (1999))

Aber man kann dem Lexikon ein noch größeres Kompliment machen: Es eignet sich für Theorieinteressierte [...] wunderbar als Lesebuch. Es erlaubt einem, ein breites und hochaktuelles Spektrum der Theorieentwicklung als Panorama zu betrachten, und wer will, der kann dies ‚Schmökern auf höchstem Niveau´ nennen. Und noch etwas muß man dem Lexikon zusprechen. Es überblickt die Theorieentwicklung der letzten Jahrzehnte und Jahre; und es kann einen Impuls für weitere Theorieentwicklungen geben, weil es Studierenden den oft schweren Zugang zur Theorie erleichtert und so künftige Theoretiker rekrutieren hilft. (Literaturkritik.de)

Kommentar: Ist als Orientierungshilfe innerhalb eines inzwischen sehr breit gefächerten Sach- und Begriffsfeldes konzipiert. Bindet in die Darstellung auch übergreifende Theorieentwürfe (wie z.B. Foucaults Diskursanalyse, Luhmanns Systemtheorie, Derridas Sprachkritik, Bourdies Gesellschaftstheorie) ein und folgt damit der interdisziplinären Struktur der Kulturwissenschaft. Das Lexikon liefert sowohl Überblicksartikel als auch die Darstellung einzelner Theorien und deren Autoren. Durch die Neuauflage im Jahr 2001 befindet sich diese Orientierungshilfe auf einem aktuellen Stand, der die Entwicklung der drei Jahre seit der Ersterscheinung berücksichtigt und in über 100 neu hinzugefügten Artikeln aufgreift. (M.M)

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Schweppenhäuser, Hermann. 1972. Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Schlagwörter: Kritische Theorie

Abstract: Um einen ersten Eindruck dieses Textes zu gewinnen seien hier zunächst die einzelnen Kapitelüberschriften aufgelistet: Der Begriff des intelligiblen Charakters Schopenhauers / Kritik der Kantschen Moralphilosophie / Wiedergutmachung an Nietzsche / Über eine Kritik der neueren Ontologie / Dialektische Theorie und Kritik der Gesellschaft / Diskontinuität als scheinkritische und als kritische gesellschaftstheoretische Kategorie / Zum Widerspruch im Begriff der Kultur / Zum Verhältnis von Staat und Kunst / Klassische und neue Moderne / Mythisches und historisches Katastrophenbewußtsein

Kommentar: Anfang der 70er Jahre veröffentlicht ist dieser Band sehr der Frankfurter Schule verbunden. (M.M.)

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Seeba, Hinrich C. 1998. "Kulturkritik: Objekt als ‚Subject'. Diskussionsbeitrag zum Gegenstand der Literaturwissenschaft". Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 41, 495-502.

Stichwörter: Germanistik, Geschichte der Germanistik, deutsch-amerikanischer Vergleich

Abstract: Womit beschäftigt sich die Germanistik, was ist ihr Gegenstand. In welchem Verhältnis stehen Objekt und Subjekt der Literaturwissenschaft zueinander ? Neigt die Germanistik dazu, sich vor ‚den Karren' der Nachbardisziplinen spannen zu lassen und wird sie im Zuge von interdisziplinären und integrierenden Untersuchungen nicht ganz vereinnahmt?

Kommentar: Seeba geht der Objekt-Subjekt-Beziehung der Literaturgeschichte innerhalb der Kulturkritik bzw. -geschichte nach. Wann ist Literatur Disziplin der Kulturgeschichte und wann ist sie deren Gegenstand? Und was ist dann wiederum der Gegenstand der Literatur? Was zunächst wie ein erkenntnistheoretisches Problem erscheint, entwickelt sich bei Seeba im Zuge eines deutsch-amerikanischen Vergleichs der Literaturanalyse von einem erkenntnistheoretischen über ein semantisches Problem hin zu einem sprachtheoretischen. Der Gegenstand der Literaturwissenschaft scheint Seeba nicht verloren, sondern noch gar nicht gefunden zu sein. (M.M.)

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Seibt, Gustav. 1999. Kulturkritik? Allerdings! Über Historisierung, kulturkritische Diätetik und das Pathos des Stammhirns. Neue Rundschau, 110, Nr. 2, 23-32.

Stichwörter: Mensch und Natur, Verstädterung, Moralkritik, Historismus

Abstract: Die vormoderne Moral- und Sittenkritik ist regelmäßig ein städtisches Problem. Den Musterfall einer solchen in der Stadt erst möglichen, aber an den Werten eines ländlichen Kodex festhaltenden Sittenkritik hat das antike Rom gebildet. Allerdings darf diese Art Moralkritik nicht damit verwechselt werden, was heute Kulturkritik genannt wird. Die moderne Kulturkritik erweist sich als ein Epiphänomen des im 18. Jahrhundert entstehenden Historismus. Der Historismus als Denk- und Wahrnehmungsform ist nun selbst das Resultat eines zivilisatorischen Verdichtungs- und Beschleunigungsprozesses, der alle Lebensbereiche erfaßte und sichtbar geschichtlich werden ließ.

Kommentar: Ausgehend von muslimischen und griechischen Überlieferungen, gefolgt von Texten aus und über das antike Rom, beschreibt Seibt das gemeinsame Wachsen von Städten und Sittenkritik. Fortführend über das Mittelalter, bezeichnet er die alteuropäische Moralkritik als konservatives Bewerten des Verhaltens, nicht aber als Urteil über das Wertesystems selber. Und genau deshalb kann man die heutige Kulturkritik nicht als Fortsetzung dieses Sittenwächtertums sehen, sondern als eine während der Aufklärung entstandene Analyse des zivilisatorischen Prozesses. Dabei hat das Individuum in der Moderne die Freiheit erlangt, diese Prozesse nach seinen unterschiedlichen Bewußtseinsebenen einzuordnen und zu beurteilen. (M.M.)

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Sennett, Richard. 1998. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin.

Textauszug: Heute wird der Begriff "flexibler Kapitalismus" zunehmend gebraucht, um ein System zu beschreiben, das mehr ist als eine bloße Mutation eines alten Themas. Die Betonung liegt auf der Flexibilität. Starre Formen der Bürokratie stehen unter Beschuß, ebenso die Übel blinder Routine. Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden. Die Betonung der Flexibilität ist dabei, die Bedeutung der Arbeit selbst zu verändern und damit auch die Begriffe, die wir für sie verwenden. "Karriere" zum Beispiel bedeutete ursprünglich eine Straße für Kutschen, und als das Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible Kapitalismus hat die gerade Straße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in einen anderen. Das Wort "job" bedeutete im Englischen des 14. Jahrhunderts einen Klumpen oder eine Ladung, die man herumschieben konnte. Die Flexibilität bringt diese vergessene Bedeutung zu neuen Ehren. Die Menschen verrichten Arbeiten wie Klumpen, mal hier, mal da. Es ist nur natürlich, daß diese Flexibilität Angst erzeugt. Niemand ist sich sicher, wie man mit dieser Flexibilität umgehen soll, welche Risiken vertretbar sind, welchem Pfad man folgen soll. Um den Fluch vom Begriff "Kapitalismus" zu nehmen, wurden im letzten Jahrzehnt viele Umschreibungen kreiert, wie "freies Unternehmertum" oder "marktwirtschaftliches System". Heute wird der Begriff Flexibilität in diesem Sinne gebraucht. Mit dem Angriff auf starre Bürokratien und mit der Betonung des Risikos beansprucht der flexible Kapitalismus, den Menschen, die kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingehen, statt der geraden Linie einer Laufbahn im alten Sinne zu folgen, mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten. In Wirklichkeit schafft das Regime neue Kontrollen, statt die alten Regeln einfach zu beseitigen - aber diese neuen Kontrollen sind schwerer zu durchschauen. Vielleicht der verwirrendste Aspekt der Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter. In der Geistesgeschichte bis zurück in die Antike gibt es kaum einen Zweifel an der Bedeutung des Wortes Charakter: es ist der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen. Horaz hat geschrieben, daß der Charakter eines Menschen von seinen Verbindungen zur Welt abhängt. In diesem Sinne ist Charakter ein umfassenderer Begriff als sein moderner Nachkomme, die Persönlichkeit, bei der es auch um Sehnsüchte und Gefühle im Inneren geht, die niemand anderes erkennt. Der Charakter konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung. Charakter drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen. Aus der wirren Vielfalt von Empfindungen, mit der wir alle uns jederzeit herumzuschlagen haben, wählen wir einige aus und versuchen sie aufrechtzuerhalten. Diese nachhaltigen Züge werden zum Charakter, es sind die Merkmale, die wir an uns selbst schätzen und für die wir den Beifall und die Zuwendung der anderen suchen. Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind die Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt (10-12).

Kommentar: In acht Kapiteln ("Drift. Wie persönliche Erfahrung in der modernen Arbeitswelt zerfällt"; "Routine. Ein Übel des alten Kapitalismus"; "Flexibilität. Die neue Strukturierung der Zeit"; "Unlesbarkeit. Warum moderne Arbeitsformen schwer zu durchschauen sind"; "Risiko. Warum Risiken auf sich zu nehmen verwirrend und deprimierend geworden ist"; "Das Arbeitsethos. Wie sich das Arbeitsethos gewandelt hat"; "Scheitern. Wie man mit dem Scheitern fertig wird"; "Das gefährliche Pronomen. Gemeinschaft als Mittel gegen Drift") untersucht Sennett, wie eine "Arbeitswelt voller Drehtüren" (151) den Menschen verändert. (Der Originaltitel seines Memorandums lautet: The Corrosion of Character). Die Frage, ob die neuen Wirtschaftsmethoden eine Verbesserung für die ‚Arbeitnehmer' - auf das Irreführende dieses Begriffs hat Andersch u.a. hingewiesen - mit sich bringen, beantwortet der Soziologe negativ: "In dieser konkurrenzgeprägten Szenerie räumen die Erfolgreichen den Spieltisch ab, während die Masse der Verlierer das Wenige teilt, was übrigbleibt. [...] Ohne ein bürokratisches System, das Wohlstandszuwächse innerhalb einer Hierarchie verteilt, streben die Gewinne zu den Mächtigsten; in regellosen Institutionen werden die, die in der Lage sind, alles zu nehmen, dies auch tun. Die Flexibilität verstärkt die Ungleichheit" (119). Der Zynismus des hire & fire kommt in dem Satz eines consultants zum Ausdruck: Sobald Angestellte "verstehen [daß sie sich nicht auf die Firma verlassen können], sind sie marktgängig" (29).
Sennett illustriert anhand von Fallgeschichten, welche gravierenden Auswirkungen - am schwerwiegendsten vielleicht die Zerstörung von familiären und freundschaftlichen Bindungen - das Dogma der Flexibilität auf den einzelnen hat. Ohne dem ‚alten Kapitalismus' das Wort zu reden, gelangt er zu dem Fazit, daß der kurzfristig agierende Kapitalismus von heute, beispielhaft verkörpert in der Figur Bill Gates', eine Katastrophe ist. (M.R.)

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Texte zur Kulturkritik, Band 1. 1988. Rolf F. Schütt: Am schnellsten vermehrt sich die Unfruchtbarkeit: Essays zur Multi-Kulturlosigkeit mit Rückblick auf das 21. Jahrhundert. Oberhausen: Athena Verlag.

Schlagwörter: Kulturlosigkeit, Essay, Satire, Multikulturalismus,

Abstract: Der Band bietet Modelle kritischer Reflexion, eine Auswahl von Aufsätzen zu kulturellen Fragen, die aktueller sein sollten, als sie es sind. Was sagt die religiöse Vernunft zu den Jahrtausenden bisheriger Leistungskultur? Kann man für den lebenden Arbeiter und gegen das Arbeitsleben argumentieren? Geht es "zurück zur Natur" des Menschen oder vorwärts zur Intellektualkultur? Was hat Kunst mit dem 1. Gebot Gottes zu schaffen? Hat Plato Recht und wahre Kunst mit Wahnsinn zu tun? Geht in den Köpfen von Autor und Leser das gleiche vor? Kann man für "Schundromane" (Handlungen ohne Abhandlungen) und für avancierte "Eliteratur" zugleich plädieren? Lassen sich Dichter und Sprachkunstwerke psychoanalysieren, ohne sie zu vergewaltigen? Leben Künstler auf Galerien oder Galeeren? Was spricht für Touristen und gegen Nomaden? Ist Buddha im Westen ein Neurotiker? Vive la petite différence: Was verbindet den Philosophen Adorno mit einem seltsamen Amateurdenker? Was unterscheidet alte und moderne Männerbilder? Ist der "neue Lehrer" besser als der alte Pauker? Läßt die europäische Geistesgeschichte sich neu schreiben vom Aphorismus aus, einer apokryphen Hybridgattung zwischen Dichten und Denken, und warum schrieb Hegel keine "Phänomenologie der Geistesblitze"? (Verlagstext)

Kommentar: Diese Essaysammlung widmet sich den unterschiedlichsten kulturellen Aspekten. Der Entstehung der Menschheitsgeschichte wird ebenso nachgegangen, wie der Frage, ob ein Autor immer die Wünsche des Publikums im Auge haben muss? In einem immer leicht ironischen - teils auch satirischen - Stil, reflektiert der Autor u.a. das Dilemma des Lehrers, der seine Schüler auf ein Leben vorbereiten soll, das er selber gar nicht kennt, da er die Schule nie verlassen hat. ‚Ein Haufen aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge ist die schönste Weltordnung', sagt Heraklit - und Rolf F. Schütt scheint hier ein Stück seiner Weltordnung präsentieren zu wollen. (M.M.)

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Texte zur Kulturkritik, Band 2. 1988.
Rolf F. Schütt: Zurück zur postökologistischen Natur: Über metapolitische Methoden der Ganzheit und der Differenzen. Oberhausen: Athena Verlag.

Schlagwörter: Natur, Satire, Psychoanalyse, Metaphysik

Abstract: Auch dieser Band vereint ausgewählte Essays zu kulturellen Fragen, die aktueller sind, als sie heute gehandelt werden: Haben neuzeitliche Absichten die religiösen Einsichten überholt? Qualitativ Neues oder immer mehr vom Immergleichen: Braucht es mehr Psychoanalytiker oder 'geistesökologische' Ganzheitsgurus? Ist die Natur zu verbessern, oder sind Idyll und Physik zwei extreme Abarten, sie zu verfehlen? Ist Denken ohne Handeln ein Fehler, und gibt es nur Trivialliteratur? Sind Sparsamkeit, Sauberkeit und Pünktlichkeit, law and order, Isolation und Präzision, Fleiß und Sorgfalt konservative Tugenden? Wann löst der geistige Wettkampf den materiellen Existenzkampf ab? Ist Mystik 2000 die alte Mystifikation und Spirit(ual)ismus der neue Ungeist? Veralten Psychoanalysen oder ihre Gegner? Ist Philosophie objektiver als Religion, und warum ist sie keine Kontemplation mehr? Gibt es eine Zeitschrift, die die (post)modernen kulturellen Denkmuster beschämen könnte?Warum suchen Franzosen das Geistreiche und Deutsche das Spirituelle? Was kann der reinen Natur intellektuell gerecht werden, ohne die Innenwelt zu verschmutzen? (Verlagstext)

Kommentar: Auch dieser Band kommt als Sammelsurium unterschiedlichster, ironisch aufbereiteter Gedanken Schütts daher, dem es merklich Freude macht, Ansätze in der Philosophie/Psychoanalyse auf ihre heutige Aktualität hin abzuklopfen. (M.M.)

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Ullrich, Wolfgang. 1999. Zentrifugalangst und Autonomiestolz. Ein Nachruf auf die Kulturkritik. Neue Rundschau, Heft 2/1999, S. 9-22.

Schlagworte: Schelers Kategorientafel der Kulturkritik, "höherwertige" KulturHeideggers Ablehnung, "eigentliche" KulturScheler, Heidegger

Abstract: Aufschlussreich ist Schelers Kategorientafel der Kulturkritik, weil die Technik kulturkritischen Denkens in Dualitäten dargestellt wird, die jedoch keine strikten Gegensätze bezeichnen, sondern durchaus zu "Verwechslungen" (z.B. Komfort mit Kultur) führen können, und nur dem geschulten Blick verrät sich das eine als Defizienzform des anderen.Diese Aufstellung wurde von Heidegger als Beleg einer Reduktion des Denkens auf ein nutzenorientiertes Rechnen hin abgelehnt. So äußert er die Überzeugung, dass sich das Wesentliche niemals in einer Tafel noch sonst wie in einer Fächerung eines Systems aufzählen und darstellen ließe.

Kommentar: Ausgehend von Max Schelers dualistischer Gegenüberstellung von deutscher und englischer Kultur (wobei die englische eine Ausdünnung der deutschen bzw. eine falsche Gleichsetzung mit dieser ist) zeigt Ullrich eine plakative Form der Kulturkritik, die darauf hindeutet, dass es nicht nur reine Gegensätze zu einer Kultur oder einem Kulturbegriff gibt, sondern Auffassungen vorherrschen können, die mit ihren Begriffen die "höherwertige" Kultur überlagern können. Diese "höherwertige" Kultur bildet das Zentrum, die Ausdünnung und Verwechslung sind die Peripherie; Kulturkritik bedeutet somit, alles mit dem Argwohn zu observieren, es könnte Zentrifugalkräften unterliegen. Scheler geht also davon aus, das Zentrum, also die "höherwertige" Kultur und somit das "Gute, Schöne, Wahre" zu kennen und bestimmen zu könnenIm Gegensatz dazu steht Heideggers Negation, sich dem "Wahren" auch nur vermeintlich nähern zu können. (M.M.)

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Vollhardt, Friedrich. 2001. "Kittlers Leere. Kulturwissenschaft als Entertainment". Merkur, 55/8, 711-716.

Kommentar: In seiner - wie der Titel bereits anzeigt - polemischen Besprechung des 2000 erschienenen Sammelbandes Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft (München: Fink), der eine an der Berliner Humboldt-Universität gehaltene Vorlesungsreihe Friedrich Kittlers zur Einführung in die Kulturwissenschaft dokumentiert, übt Vollhardt scharfe Kritik an dieser, nach Kittlers eigenen Worten, "unbegründbaren" (zitiert 716) Disziplin, die sich in ihrer Berliner Ausprägung s.E. darin erschöpft, "ohne die Last philologischer Ansprüche und ungestört von kritischen Einsprüchen oder dem kontrollierenden Blick von Kollegen über ‚heilige Texte' [nachzudenken] und in aller Ruhe das Rad neu [zu] erfinden" (716).
Kittlers Vorlesungen widmen sich Vico, Herder, Hegel, Nietzsche, Freud und Heidegger, die als Gewährsmänner der neuen Wissenschaft vorgestellt werden, was Vollhardt zu der süffisanten Bemerkung veranlaßt, bislang habe man "die genannten Autoren in anderen disziplinären Bezirken gesucht" (713). Er greift sich v.a. das Vico-Kapitel heraus, um Kittler unseriöses Arbeiten nachzuweisen. Dieser zitiere den Philosophen nämlich nicht im Original und unter Zuhilfenahme einer verläßlichen deutschen Übersetzung, sondern ausgerechnet "nach der schmalen Auswahl-Übersetzung von Erich Auerbach aus den zwanziger Jahren" - einer Übertragung "nicht [...] ins Deutsche, sondern ins Deutsch-Philosophische des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts" (714) - die nach Ansicht Jürgen Trabants lange "das Haupthindernis zum Zugang zu Vico in Deutschland" war (714). Darüber hinaus vermißt Vollhardt die Einbeziehung neuerer Interpretationen sowie die Berücksichtigung der Ergebnisse der Quellenforschung. "Kittler vertraut statt dessen seinen steckengebliebenen Lesezeichen in der Rowohltschen Taschenbuchausgabe, an denen entlang er noch einmal die inzwischen fragwürdig gewordene Geschichte von 'Vicos Kulturwissenschaft als Absetzung von der neuzeitlichen Naturwissenschaft' erzählt" (715). Nachdem er Kittlers Bedauern darüber zitiert hat, daß "kulturwissenschaftliche Theorien nicht von der strahlenden Kontextfreiheit heutiger Programmiersprachen" seien (715), bescheinigt er ihm, "wenigstens" in seiner Deutung der Herderschen Kulturtheorie zur "(historischen) Kontextfreiheit" gefunden zu haben (716). Herders Diktum vom "Menschen als Mängelwesen" sei nämlich "ohne Kenntnis der naturrechtlichen Denkfigur der imbecillitas mentis nicht adäquat [zu] verstehen. Aus ihr erklärt [sic] sich die soziale Natur des Menschen und seine Sprachfähigkeit, die Lehre vom Instinktmangel erhält eine methodische Funktion im Zusammenhang der nach-grotianischen Gesellschaftstheorien" (716). Indem Kittler diese Traditionslinie, die von Hugo Grotius zu Herder führt, kappt, reduziert er "das komplexe anthropologische Modell" auf einen "selbstbezüglichen Effekt der im übrigen neurotische Zwänge produzierenden Kernfamilie" (716).
Der Begeisterung des Rezensenten der FAZ (26. Februar 2001), den Vollhardt mit den Worten zitiert: "Die Philologie ist noch nicht am Ende", vermag er sich unter diesen Umständen nicht anzuschließen: "Es sind [...] zu viele Ausführungen Kittlers, die im Niemandsland zwischen philologischer Wissenschaft und kulturphilosophischer Erzählung ihre Konsistenz verloren haben. Hinzu kommt, daß derartige Einwände, Korrekturen und Hinweise im Denk-, Sprech- und Schreibstil der neuen Berliner Kulturwissenschaft als kleinlich und borniert erscheinen" (716). Mit dem Hinweis auf das Buch von Alan Sokal und Jean Briemont Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen (München: Beck) gibt Vollhardt zu verstehen, was er von der "neuen Berliner Kulturwissenschaft" und ihrem berühmten Cheftheoretiker hält, nämlich nichts. (M.R.)

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Watsuji, Tetsurô. 1997. Fûdo - Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Schlagwörter: Japandiskurs, Klimatologie, Kulturtheorie, Kulturvergleich, Kulturkritik, Hermeneutik, Antropologie, Ästhetik, Locozentrismus

Abstract: Watsuji Tetsurôs (1889-1960) als "Ethik" proklamierte klimatologische Studie Fûdo (Vorlesungsmanuskript 1928/29, Buchveröffentlichung 1935) besteht aus 5 Kapiteln. Das einleitende enthält eine auf der Grundlage von Husserls Konzept der Intentionalität sowie Heideggers Sein und Zeit konzipierte Grundtheorie über fûdo (Klima), die, sich strikt von jeglichem geographischem Determinismus distanzierend, das Klima als philosophisches Problem darzustellen versucht. Das 2. Kapitel beinhaltet die Analyse der drei Klimatypen, die Watsuji infolge empirischer Beobachtungen während eines längeren Europa-Aufenthaltes sowie Reisen nach Indien, in die Südsee und den Nahen Osten unterscheidet. Mit dem in Indien, der Südsee und im ostasiatischen Küstenbereich einschließlich Chinas und Japans vorzufindenden Monsunklima verbindet der Autor zunächst generell Eigenschaften wie Passivität, Resignation und eine kontemplativ-emotionelle Lebensweise; eine Weiterdifferenzierung wird im 3. Kapitel vorgenommen. Das Wüstenklima bewirkt eine praxisorientierte Lebensweise, Widerstand, Kampfgeist und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit dem europäischen Wiesenklima verbindet Watsuji als allgemeine Charakteristika Antropozentrismus und Rationalität, wobei in Anlehnung an Spenglers Unterscheidung zwischen apollinischer und faustischer Natur weiter differenziert wird: Beschaulichkeit im Süden, technischer Fortschritt und Prädilektion zur Kriegsführung im Norden. Das 3. Kapitel behandelt besondere Formen des Monsunsklimas und widmet sich gezielt der Untersuchung Chinas und Japans. Aufgrund klimatischer Bedingungen spricht der Autor dem Chinesen ausgeprägtes Geschichts- und Traditionsbewusstsein sowie den (in Anbetracht der im 2. Kapitel als monsuntypisch proklamierten Emotionalität überraschenden) Verzicht auf Gefühlsregungen. Den so erschaffenen Kontext nützt Watsuji zur Hervorhebung der Singularität Japans: wesentliche Komponente der hier dominanten empfänglich-resignativen Haltung ist die charakteristische, auf Japan beschränkte Entschlossenheit aus Verzweiflung (yake). Die Einzigartigkeit Japans - vom Verfasser "das Merkwürdige" (mezurashisa) genannt - wird schließlich in einem Subkapitel detaillierter behandelt. Nach einigen Ausführungen bezüglich der durch Auslandsaufenthalt veränderten Perspektive auf die japanische Wirklichkeit beschreibt Watsuji Eigentümlichkeiten der japanischen Stadtplanung sowie Bauweise und erschliesst aus den architektonischen Merkmalen des japanischen Hauses (nach außen hin abgeschlossen, offen im Inneren und somit eine strikte Trennung zwischen Haus und Welt bewirkend) Charakteristika des japanischen Verhaltens: bedingungslose Liebe und Opferbereitschaft gegenüber der Familie einerseits, mangelndes gesellschaftliches Engagement andererseits. Das 4. Kapitel untersucht den klimabedingten Charakter der Kunst. Eingeleitet wird es von einigen theoretischen Überlegungen hinsichtlich der zwei laut Watsuji relevanten Faktoren "Zeit" und "Ort" und seiner Forderung nach Betonung der lokalen Verschiedenheiten als Ausdruck der Ortsgebundenheit, deren Vernachlässigung - selbst in Zeiten des "Zusammenschmelzens der Orte" (S. 152) - das Kunstwerk zum blossen Transplantat degradiert. Berührt werden an dieser Stelle auch die (damals wie heute aktuelle) Problematik der Übertragung europäischer Kunsttheorien auf außereuropäische (östliche) Kunst, des Eurozentrismus trotz Liebe zum Nicht-Europäischen sowie die Schwierigkeiten bezüglich einer angemessenen Definition des Ostens. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen westliche und japanische Kunst, idealtypisch durch klassische griechische Plastik resp. Gartenkunst repräsentiert. Den klimabedingten Charkter macht Watsuji schließlich als Ausdruck des Logischen im sinnlichen Bereich resp. Sublimierung und Idealisierung des Naturschönen aus; als Mechanisierung kritisiert und dem Japanischen diametral entgegengestellt wird die Aufgreifung des griechischen Elements durch die Römer und schliesslich die Renaissance. Das abschliessende Kapitel bietet einen kritischen Überblick über Klimatologie von den antiken Anfängen (Hippokrates) bis zu Watsujis Gegenwart (Vidal de la Blanche); besonders berücksichtigt werden Herders Klimatologie des menschlichen Geistes und Hegels Philosophie des Klima.

Kommentar: die nach der Öffnung des Landes (1853) einsetzende, äußerst dynamisch betriebene Modernisierung Japans wird vom Typus des sog. Japandiskurses begleitet, der zur Klärung des Verhältnisses zum wissenschaftlich-technisch überlegenen Westen eine zweifache Differenz thematisiert: gegenüber der abendländischen Kultur sowie der traditionellen japanischen Kultur selbst. Zur Erstellung einer Selbsthermeneutik bedient sich der seiner Bestimmung nach interkulturell angelegte Japandiskurs (Heise) der wissenschaftlichen Traditionen und theoretischen Mittel des Westens, weist jedoch gleichzeitig die Tendenz auf, die theoriegeleitete Selbstinterpretation für spezifisch westlich und die japanische Kultur für singulär, diskursiv unzugänglich zu erklären und sie der wissenschaftlichen Untersuchung zu entziehen. Der Philosoph Watsuji Tetsurô befasste sich in zahlreichen Studien zur Kultur- und Geistesgeschichte mit den Ausdrücken japanischer Subjektivität, wobei Fudô die vier Pfeiler seines Denkens (Klimatologie, Ethik, Geistesgeschichte, Kulturkritik) in Ansätzen beinhaltet und die theoretische Grundlage seines Programms bildet (Liederbach). Es verbindet ontologische und kulturelle Analyse, deren gemeinsamen Grund das als intentionale Struktur verstandene Klima darstellt, und kann nicht unabhängig von einer intensiven Husserl- und Heidegger-Rezeption betrachtet werden. Von Anfang an distanziert sich Watsuji von der Vergegenständlichung des Klimas als Vorgehensweise der Naturwissenschaften und sucht einen neuen, philosophisch begründeten Zugang zur Natur. Um eine solche Vergegenständlichung zu vermeiden, deutet der Verfasser im Rahmen von Husserls Phänomenologie das Klima als intentionales Erlebnis und definiert das Verhältnis des Menschen zu diesem als "Hinaustreten" /"Hinausstehehen" , wobei dieser Begriff zunächst keine zufrieden stellende Klärung erfährt. Dies bringt Watsuji - vor allem seitens Berque - den Vorwurf des geographischen Determinismus ein, den es gerade zu vermeiden galt. Um diesen zu entkräften, wendet sich der Autor in der Fassung von 1935 von Husserls Konzept der Intentionalität des Bewusstseins weitgehend ab und nähert sich Heideggers Analytik des Daseins, was eine eindeutigere begriffliche Klärung sowohl des Klimas als auch des Hinausstehens ermöglicht. In Hinwendung an Heideggers in-der-Welt-seins erfolgt die Einführung der Termini ningen (Mensch des Zwischens) und aidagara (Zwischensein), mittels derer die Erfassung des Menschen in seiner doppelten Natur als Individuum und gemeinschaftliches Wesen (an dieser Stelle kommen die ostasiatischen Traditionen, besonders diejenigen des Buddhismus und Konfuzianismus zum Tragen, die Watsuji der westlichen Vernachlässigung der Sozialität entgegenstellt) sowie die Vergeschichtlichung des Klimas und ihr Verständnis als Ort, an dem sich der Mensch selbst entdeckt, begreift und dieses Begreifen tradiert wird - kurzum als Lebenswelt - erreicht werden. Die Tradition des klimatischen Selbstverständnisses äußert sich in Formen der Gemeinschaftsbildung, Bewusstseinsformen, Produktionsformen - hiermit verleibt der Verfasser der Klimatologie eine Kulturtheorie ein, die die Differenzierung der Kulturen aufgrund der Selbstunterscheidung der Natur in verschiedenen Klimata vornimmt (Heise). Trotz aller Bemühung bleiben in Fudô - neben dem nationalen Tenor - einige theoretische Schwächen enthalten; hinzu kommt an mancher Stelle ein offensichtlich unzureichendes faktisches Wissen und irreführende Verallgemeinerungen - der gegenüber Watsuji seitens seiner Kollegen geäußerte Vorwurf eines gewissen Diletantismus wird hier, wenn nicht bestätigt, so doch erhärtet. Irritierend wirkt auch der vom japanischen Kontext häufig nicht zu trennende, streckenweise vorherrschende deskriptive Ton. Dennoch gelingt Watsuji mit dieser Studie sowohl die japanische Kultur philosophisch zugänglich zu machen als auch eine Fremdhermeneutik zu erstellen, einen Spiegel, in dem man sich wieder erkennt, wenn auch karikaturistisch verzerrt

Literaturhinweise: Berque, Augustin: Identification of the Self in Relation to the Enviroment, in: Rosenberger, Nancy Ross (Hg.): Japanese Sense of Self, Cambridge: UP 1992, S. 93-104. Heise, Jens: Nihonron: Materialien zur Kulturhermeneutik, in: Menzel,Ulrich (Hg): Im Schatten des Siegers: Japan. Bd.1: Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1989, S. 77-96.Liederbach, Hans Peter: Zur Entstehungsgeschichte von Watsuji Testurôs Fudô. Die Veränderungen des Klimabegriffs von der Erstveröffentlichung 1929 bis zur Buchfassung 1935, in: NOAG 167-170 (2000-2001), 159-179. (D.L.).

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Wyss, Beat. 1973. Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln: DuMont.

Schlagworte: Mentalität, Hegel, Ästhetik, Avantgarde, Moderne, Postmoderne

Abstract: Das Buch ist ein Kunst-Stück. Es handelt von der Kunst, entfaltet ihr Wesen, deutet ihre Gestalten - und ist selber Kunst: Kunst der Interpretation im Mantel geistreicher Gegenrede. (Auszug Rezension SZ, Klappentext)

Die notwendig nachträgliche, aber unnötig nachtragende Vorgeschichte der Postmodernität, die Beat Wyss auszumachen unternimmt, ist aufregend und anregend (Auszug Rezension FAZ, Klappentext).

Eine Entdeckungsreise durch die Kunstgeschichte und nicht zuletzt ein Lesegenuß (Auszug Rezension Frankfurter Rundschau, Klappentext).

Kommentar: "Ich glaube nicht, daß es in der Geschichte der Philosophie einen Fortschritt gibt, vergleichbar der stetigen Verbesserung des Automobils; eher wird die Philosophie, die Kultur überhaupt, erst bereichert durch die Wiederentdeckung veraltet geglaubter Erkenntnisse. Kunstdeutung und Kunstbetrachtung bilden einen eidetischen Knoten, worin Dokumente der Vergangenheit und deren Auslegung in der Gegenwart zu ‚Geschichten' geschürzt werden; über ihre Wahrheit befindet das epochal veränderliche Sinnbedürfnis immer von neuem" - schreibt Beat Wyss in seinem Vorwort und versucht im folgenden die Philosophie (vor allem Hegels ‚Vorlesungen über die Ästhetik') und Kunstgeschichte zu verknüpfen. (M.M.)

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Züfle; Manfred. 1998. "Der bretonische Turm". Essays zur Macht- und Kulturkritik. Berlin: Argument.

Schlagworte: Kommunikation, kritische Sozialwissenschaft, Schweiz, Kulturumbrüche, Macht

Abstract: 16 Essays, die in aktuelle kulturpolitische Debatten eingreifen und ein prägnantes Bild aktueller Entwicklungen in unserer Gesellschaft zeichnen. Engagiert und sensibel werden hier neue gesellschaftliche Tendenzen verzeichnet: Wie verändern die neuen Technologien das kulturelle Zusammenleben? Was heißt es, wenn die Jugend als eigener Lebensabschnitt abgeschafft wird, und welche Chancen bestehen für eine zeitgemäße Bildung? Die Texte fragen nach den Möglichkeiten einer kritischen Sozialwissenschaft und nehmen Freuds Projekt einer Kulturkritik neu auf. Sie greifen ein in aktuelle kulturpolitische Debatten, beziehen Stellung gegen einen modisch apokalyptischen Ton und beharren zugleich auf der Notwendigkeit von politischen und spirituellen Visionen. (Klappentext)

Kommentar: Die Essays entstanden im Zeitraum 1983-1998, also in einer Zeit, die von Umbrüchen gekennzeichnet war (als Beispiel der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus'). Eben diese Veränderungen bieten den Ansatzpunkt, Tendenzen und Grundlagen des kulturellen Zusammenlebens darzustellen. (M.M.)
  

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II. Kulturwissenschaft / Literaturwissenschaft

 

Graevenitz, Gerhart von. 1999. "Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung". Deutsche Vierteljahrsschrift, 73/1, 94-115.

Kommentar: Graevenitz' "Erwiderung" auf den Aufsatz "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?" von Walter Haug (Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 69-93) hebt mit einer ironisch-spitzen Rekapitulation des dort dargelegten Problemfeldes an, die aufgrund ihrer z.T. verzerrenden Raffung des Haugschen Gedankengangs, wie auch durch bewußt oder unbewußt mißverstehende Unterstellungen, den so Herausgeforderten zu einer Richtigstellung genötigt hat ("Erwiderung auf die Erwiderung" (E.E), Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 116-121), die hier, wo nötig, mit berücksichtigt werden soll.
Der Hauptvorwurf, den Graevenitz gegenüber seinem Tübinger Kollegen erhebt, besteht darin, daß dieser angeblich den "Sonderstatus der Literatur", auf den Haug in der Tat beharrt, in einem konservativen Sinn zu zementieren sucht, um im Elfenbeinturm einer musealisierten, wenn nicht gar mumifizierten, Literaturwissenschaft dem ansteigenden Meer der Kulturwissenschaften zu widerstehen. Er bezieht sich dabei auf das Wort von der "lebendig-gespannten Konstanz des Dichterischen im Spannungsfeld seines Wirklichkeitszusammenhangs". Haug verwahrt sich entschieden gegen diese Interpretation: "Es geht bei dem, was ich mit ‚lebendig-gespannter Konstanz' meine, nicht [...] darum, eine ‚Innensicht', eine ‚Autarkie' oder ‚Spezifität' der Literaturwissenschaft ‚ängstlich' zu hüten und den ‚Wirklichkeitszusammenhang' bestenfalls über eine ‚wohldosierte Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften' einzubeziehen, mein Wort zielt vielmehr [...] darauf, die traditionelle Form der Literaturgeschichtsschreibung aufzubrechen und die dichterische Gestalt als eine Leistung zu sehen, die dem Kontingenten abgerungen ist" (EE, 116).
Ein weiterer Vorwurf ist, Haug habe "die Symptome mit den Ursachen verwechselt" (95). Die monierten "Als-Metamophosen" seien mitnichten "Schwächeanfälle des disziplinären Selbstbewußtseins" (95), sondern vielmehr Teil und Ausdruck der "nachholenden Modernisierung" (Böhme/Scherpe), die seit den späten 60er und in den 70er Jahren alle Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland von Grund auf verändert habe. Ausgehend von den durch die neuen Medien ausgelösten Umwälzungen, gibt Graevenitz im folgenden eine Erklärung dafür, "daß sich der Begriff der ‚Kulturwissenschaften' beginnt, vor den der ‚Geisteswissenschaften' zu schieben" (96) und skizziert damit zugleich, wie die Literaturwissenschaft in Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften einen neuen Aggregatzustand erreichen kann, der allein sie in den Stand setzen würde, auf gegenwärtige Entwicklungen sach- und zeitgemäß zu reagieren:
"Es genügt nicht mehr, mit der alten hermeneutischen Figur von ‚Buchstabe' und ‚Geist' und ihrem mehr oder minder weichen Platonismus aktuelle Medienanalyse zu betreiben. Weil aber die Basis des neuen Medienbegriffs die materielle Kultur der technischen Apparate ist und nicht der Buchstabe-Geist-Platonismus der alten Schrift-Begriffe, darum ziehen es viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, das Ensemble der Kunst-, Medien- und Literaturwissenschaften näher an die von jeher mit der materiellen Kultur befaßten Wissenschaften heranzurücken, sie alle zusammen als ‚Kulturwissenschaften' zu bezeichnen und in ihrem Kontext zu bestimmen, was unter aktuellen Voraussetzungen Schrift, Buch und Text bedeuten können" (95-96).
Der sich anschließende wissenschaftshistorische Rückblick auf die Karriere des Begriffspaars Kulturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft sei dem interessierten Leser zur eigenen Lektüre anempfohlen.
Wie unterscheidet nun Graevenitz Kultur- und Geisteswissenschaften voneinander?
"Es geht, sehr vereinfacht gesagt, nicht um den wechselseitigen Ausschluß von ‚Kultur' und ‚Geist', sondern darum, ob der ‚Geist' Subjekt oder Objekt von ‚Kultur' ist. Die Kulturwissenschaft untersucht Materialität, Medialität, Strukturen und Geschichte von Kulturellem und Kulturen, um zu sehen, wie Geistiges produziert und konstruiert wird. Die Geisteswissenschaft macht Zeugnisse von Kultur und Kulturen zu Objekten, die als Erscheinungsweisen des Geistes zu deuten und zu verstehen sind. Die Kulturwissenschaft tendiert strukturell zum Pluralismus des Kulturellen, die Geisteswissenschaft zum Einheits- und Ganzheitsmodell des einen menschlichen Geistes" (98). Graevenitz sieht die "aktuelle Frontstellung von Kultur-und Geisteswissenschaften" dementsprechend vor allem in der "Oppostition von Pluralität und Einheit als Letzthorizonten der Wissenschaft" repräsentiert: "Das ist es, was auch Walter Haug [...] gegeneinanderführt: den kulturwissenschaftlichen Pluralismus des interdisziplinären, latent unseriösen ‚Spiels' und die in Werk, Autonomie und Geschichte zentrierte hermeneutische Literaturwissenschaft. [...] Genau so aber ist Kulturwissenschaft aufzufassen: als der pluralistische Kontext für die Selbstreflexivität einer pluralistischen Literaturwissenschaft und nicht als der ungleiche Gegenpart in einer verfehlten Konfrontation." (98)
Im zweiten Teil seines Aufsatzes geht Graevenitz genauer auf den genannten kulturwissenschaftlichen Pluralismus ein. In der vom Sprachforscher und Philosophen Heymann Steinthal (1823-1899) und vom Philosophen Moritz Lazarus (1824-1903) begründeten "Völkerpsychologie" sieht er "einen frühen Versuch, die zunehmende disziplinäre Vereinzelung des modernen Wissens auf einer höheren Ebene wieder zusammenzuführen, ohne die Errungenschaften der Fächerkompetenzen preiszugeben" (99). Völkerpsychologie wird heute nicht mehr betrieben, doch der Kerngedanke, der diesem Prototypen einer als Meta-Wissenschaft verstandenen Kulturwissenschaft zugrunde liegt, nämlich eine Vielheit von Daten unter einem Gesichtspunkt zu erforschen, sie, mit anderen Worten, zu perspektivieren - dieser Gedanke lebt in den heutigen Kulturwissenschaften fort. Graevenitz legt Wert auf die Feststellung, daß "‚Kulturwissenschaft' ein Kontextbegriff ist" und Kulturwissenschaft "nur [...] ein Kontext, der freilich die disziplinären Orientierungen in neue Dimensionen und Perspektiven rückt und ihnen neue Selbstreflexivität abverlangt" (100). Haugs Überlegung, daß es möglicherweise begründeter sei, wenn man die Kulturwissenschaften als Teil der Literaturwissenschaft ansähe, anstatt letztere wie eine bloße Intarsie eines expansiven (und potentiell, trotz gegenteiliger Beteuerungen, extinktiven) Paradigmas zu behandeln - von dem andererseits nicht einmal sicher sei, ob ihm außerhalb der Begrifflichkeit eine greifbare Substanz zukomme - erteilt Graevenitz eine deutliche Absage: "Es wäre [...] eine hoffnungslose Überforderung der Literaturwissenschaft, wollte sie sich in irgendeiner ihrer Gestalten an die Stelle dieses Kontextes setzen" (100).
Im folgenden setzt er auseinander, daß der "strukturelle Begriff" Kulturwissenschaft "kein leerer Transzendentalismus" bleibt: "Zur Semantik von ‚Kulturwissenschaft' [gehören] zwei Ebenen, der allgemeine und strukturelle Pluralismus einerseits und die konkrete Konzeptualisierung von Pluralismus in disziplinären Kulturwissenschaften wie der Ethnologie andererseits. Die ‚Kunst der Multiperspektivität' bezeichnet die allgemeine, ein ‚material gefüllter Begriff von Kulturwissenschaft' die andere Ebene" (100). Geertz' Rekurs auf Paul Ricœurs Hermeneutik, bei gleichzeitiger Verschaltung seines Denkens mit einem "breiten Paradigmen-Kontext", stellt vor diesem Hintergrund ein Paradebeispiel eines "perspektivierten Pluralismus" dar: "Er zentriert seine offene und vielfältige paradigmatische Orientierung, und er zentriert mit Hilfe eines Modells, das selbst als theoretische Begründung des ‚perspektivierten Pluralismus' zu lesen ist" (100). Ein solches Mobile "paradigmatischer und disziplinärer Orientierungen" (101-102) ist, so Graevenitz, "vonnöten", um Kultur - verstanden als "Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind" (Geertz) - "angemessen analysieren und beschreiben zu können" (101).
Schließlich stellt er - Haug zum Teil widersprechend - fest, daß es zu kurz greifen würde, Geertz' anthropologische Kulturwissenschaft "einfach [als] verspätete Übernahme alteuropäischer Hermeneutik" zu umschreiben; vielmehr handele es sich dabei um eine "von der angelsächsischen Sprachphilosophie inspirierte transdisziplinäre Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit disziplinärer Forschung" (101).
Der dritte Teil der Erwiderung bringt eine - an den Kernthemen Individualität des Werks, Autonomie des Werks, Hermeneutik und Geschichte orientierte - Kritik der Haugschen Konzeption von Literaturwissenschaft, die, so Graevenitz, "Elemente einer historisch-hermeneutischen Philologie verbindet mit Elementen der idealistischen Ästhetik." (103) Graevenitz' Bestreben ist es anzudeuten, "wie der kulturwissenschaftliche Kontext von Walter Haugs literaturwissenschaftlichen Kernbegriffen aussieht." (103)
Zum ersten Punkt (Individualität des Werks). Graevenitz demonstriert die Porosität eines idealistischen Werkbegriffs, "der mit den Adjektiven ‚individuell' und ‚autonom' auskommt" (104-105), indem er die ‚Hefe' vorstellt, die die umkämpfte ‚feste Burg' seit jeher als Luftschloß konstituiert. Medienhistorische Forschung, Literatur- und Sozialgeschichts-schreibung, Diskursanalyse, philosophische Ästhetik und Intertextualitätsdebatte haben das irrlichternde Herz des ‚alten' Werkbegriffs offengelegt und lassen heute nur mehr einen "modernen Werk-Begriff" vertretbar erscheinen, "zu dessen Positivität gerade das ‚Risiko der Selbstgefährdung' gehört" (104). Um die Brüchigkeit des Konzepts auch typographisch zu markieren, vermeidet Graevenitz die eher affirmative, da Kompaktheit suggerierende, Schreibung "Werkbegriff" und rückt durch Einfügung eines Bindestrichs das Gemachte, Prekäre des Kompositums in den Vordergrund: "Werk-Begriff". Der Bindestrich symbolisiert zugleich das ‚Gelenk', das dieser kritische, "auf seinen ganzen kulturhistorischen Kontext hin" geöffnete, Werkbegriff (105) seinem starren idealistischen Pendant voraushat, und das ihn dadurch erst tauglich macht für die Analyse von Texten, ‚die nicht stillhalten'.
Das Stichwort "Autonomie" ist gefallen. Graevenitz' Verständnis des Begriffs beruft sich auf Adorno, den er mit dem Satz zitiert: "Ihr [der Kunst] gesellschaftliches Wesen bedarf der Doppelreflexion auf ihr Fürsichsein und auf ihre Relationen zur Gesellschaft" (105). Diese Doppelreflexion ist die Bedingung für das Ästhetische. Doch während Adorno die Fähigkeit zur "autonomen Reflexivität der Kunst" nur den Werken der Hohen Kunst zugestand und damit diese allein dem Ästhetischen zugänglich erklärte, plädiert Graevenitz unter Berufung auf Albrecht Wellmer, Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash dafür, den Begriff des Ästhetischen - etwas pompös (und etwas tautologisch) definiert als "Heraustreten autonomer ästhetischer Reflexivität aus der kulturellen Bedingtheit in die Anschaulichkeit des Werks" (105) - für die Populärkultur zu öffnen: "Die normative Ausschließung der Möglichkeit von Selbstreflexivität im ‚Wilden', ‚Mythischen' oder ‚Populären' [...] ist dogmatisch" (106).
Hier gilt es einzuhaken. Zunächst: Die Unterscheidung zwischen ‚Hochkultur' und ‚Populärkultur' in Hinblick auf das Kriterium der Autoreflexivität spielt bei Haug keine Rolle. Selbstverständlich kann auch Rockmusik (Pop, Elektronische Musik etc.) potentiell eine Form ästhetischer Reflexivität darstellen, wie sich umgekehrt der Besucher einer Wagneroper auf dem Grünen Hügel mit dem Vorwurf konfrontiert sehen mag, sich freudig und aus freien Stücken in die Zwangsjacke der herrschenden Verhältnisse zu wickeln. Dies vorausgeschickt, darf der zitierte Graevenitzsche Satz als ‚des Pudels Kern' in der ganzen Debatte um Literaturwissenschaften vs. Kulturwissenschaften bezeichnet werden. Hatte Haug in aller Klarheit zu Protokoll gegeben: "Die Literatur kann etwas, was der balinesische Hahnenkampf und mit ihm alle übrigen kulturellen Manifestationen dieser Ebene nicht können, nämlich sich explizit selbst reflektieren" (86), so fällt bei Graevenitz diese Grenzziehung zum ‚Wilden' und ‚Mythischen' weg: "Man darf daran erinnern, daß es ausschließlich eine Frage des wissenschaftlichen Paradigmas ist, ob man im Mythischen und Ethnischen Selbstreflexivität entdeckt oder nicht" (106). Damit landen Hahnenkampf und Shakespeare in einem Topf, genau gesagt im bunten Einerlei des "Anything goes" (Feyerabend) bzw. des "All is pretty" (Warhol) - beides Formulierungen einer dezidiert unkritischen Haltung, die als in die Wissenschaft verlängerter Quietismus charakterisiert werden kann. Dessen Losung lautete bekanntlich: "Whatever is, is right." (M.R)

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Haug, Walter. 1999. "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?". Deutsche Vierteljahrsschrift, 73, 69-93.

Kommentar: "Die Literaturwissenschaft hat in einem Maße Probleme mit ihrem Selbst-verständnis, wie dies für kein anderes Fach zuzutreffen scheint" lautet die phrase d'accès dieser skeptisch-kritischen Auseinandersetzung des Tübinger Mediävisten mit dem jüngsten Paradigma der Literaturwissenschaften: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft - ein Paradigma, das sich, so Haug, nahtlos an die "‚Als'-Metamorphosen" anschließt, zu denen die Literaturwissenschaftler "geradezu periodisch" ihr Fach "umetikettiert" haben, als da wären: "Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte, Literaturwissenschaft als Sozialgeschichte, Literaturwissenschaft als Psychoanalyse, Literaturwissenschaft als Ideologiegeschichte, Literaturwissenschaft als Mentalitätengeschichte". Den neuesten "Trend" nimmt Haug nun zum Anlaß zu fragen, warum "Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein" darf, d.h. eine Wissenschaft, "die eine ihrem Gegenstand, der Literatur, entsprechende Methode des Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen vermag" (69).
Er bringt für das "Defizit an Selbstbewußtsein" drei "Dilemmata" in Anschlag. (Dabei ließe sich das defensive Wort "Dilemma", das den Diskutanten von vornherein ins Unrecht setzt, ohne weiteres durch die sachlich-optimistische Fügung "dialektische Spannung" oder "dialektischer Prozeß" ersetzen.) Deren erstes besteht darin, daß der Literarhistoriker seiner Aufgabe, Literaturgeschichte zu betreiben, letztlich nicht gerecht werden kann, da er vornehmlich mit Werken der sogenannten ‚Höhenkammliteratur' befaßt ist, die sich geschichtlich nicht verrechnen lassen. Das zweite Dilemma ist eine Folge der strukturalistischen Wende mit ihrer Bevorzugung der Synchronie gegenüber der Diachronie und dem damit zusammenhängenden Verständnis von Literatur als einem System, das von anderen literarischen und außerliterarischen Systemen umgeben ist. Es stellt sich die Frage, ob das literarische System als Subsystem im kulturellen Gesamtsystem integriert und somit funktional ist, oder ob es sich als ‚Paralleluniversum' in (relativer) Autonomie zu diesem verhält, und wenn ja, welche Funktion es damit erfüllt. Haug stimmt zu, daß Literatur mit Nichtliteratur interagiert, warnt aber davor, ihr mit Methoden beikommen zu wollen, die nicht spezifisch literaturwissenschaftlich sind und sie letzlich ihrer Eigenart zu berauben drohen (69-70). Den grundsätzlichen Nutzen fachfremder Verfahrensweisen für die Literaturwissenschaft streitet er indes nicht ab. Das dritte Dilemma hängt mit der "Standpunktgebundenheit der eigenen Interpretation und damit [...] ihrer Überholbarkeit" (71) zusammen. Denn es gehört zur Kondition des Historikers, gleichviel mit welcher Art historischer Fakten er befaßt ist, Geschichte nur vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachten zu können, mit der Folge, daß die zwangsläufig verzerrende Perspektive auf das geschichtliche Objekt jeweils nur subjektive ‚Wahrheiten' zu befördern vermag. Zu diesem "hermeneutischen Zwiespalt" freilich, so Haug, muß sich die Literaturwissenschaft bekennen, will sie sich nicht "auf einen bloßen Faktenpositivismus zurückziehen und auf Interpretation verzichten" (71).
Nach diesen einführenden Bemerkungen zur schwachen Position der Literaturwissenschaft wendet sich Haug dem eigentlichen Thema seiner Einlassung zu, nämlich inwiefern die Integration der "in Mißkredit geratenen Geisteswissenschaften in eine übergreifende Kulturwissenschaft" zu einem "zukunftsträchtigen Selbstverständnis" der ersteren beitragen kann. Dabei, so Haug, müsse aber zunächst geklärt werden, was hier überhaupt unter Kulturwissenschaft zu verstehen sei, denn "von der Sache und der Methode her läßt sich sehr Verschiedenes darunter begreifen" (73). Im folgenden zeichnet er den Weg nach, der zum "kulturhistorischen Konzept" führte. Angefangen bei den Neukantianern Heinrich Rickert (1863-1936) und Wilhelm Windelband (1848-1915), die den ihrer Ansicht nach zu eng gefaßten Diltheyschen Begriff "Geisteswissenschaft" (vs. "Naturwissenschaft") - unter gleichzeitiger Wahrung seines Geltungsbereichs - durch den Neologismus "Kulturwissen-schaft" ersetzt sehen wollten, führt Haugs Rundgang zu den Stationen Allegorese, Annales-Schule (Nouvelle Histoire, Mentalitätsgeschichte), historische Anthropologie und New Historicism. Er verweist dabei auf die zentrale Bedeutung der Literatur(wissenschaft) für die jeweilige Herangehensweise. So heißt es in bezug auf die ‚Nouvelle Histoire': "Grundsätzlich gilt: die Vermittlung läuft immer - wenn man einmal von rein archäologischen Daten absieht - über die Schrift" (79). Die Darstellung der Geertzschen Methode der "Dichten Beschreibung" schließt mit dem Satz: "So nähert sich denn die ethnologische Analyse in verblüffender Weise der Interpretation eines literarischen Textes an. Eine Kultur wird gewissermaßen als eine Textmontage angesehen [...]" (81).
Der Kulturbegriff Geertz', fährt Haug fort, hebe dabei nicht auf "psychologische Phänomene" ab, sondern auf "einen Kontext von Zeichen, der aus seinem eigenen System heraus interpretiert werden" muß (82). Da aber Interpretation unabwendbar - wie eingangs dargelegt - die hermeneutischen ‚Geister' auf den Plan ruft (Stichwort "Standpunktgebundenheit" und "Überholbarkeit"), kann Haug feststellen: "Die Kulturwissenschaft Geertzscher Prägung präsentiert sich als eine Art erweiterter Literaturwissenschaft, und sie handelt sich damit all jene Probleme ein, mit denen wir Literaturwissenschaftler zu kämpfen haben" (82). Die Attraktivität, die die unter dem Signum der semiotischen Wende arbeitenden Kulturwissenschaften für Literaturwissenschaftler gleichwohl besitzen, sei es die ethnologische Kulturwissenschaft eines Clifford Geertz, sei es der - als Ergebnis der "Liaison zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft" beschriebene (83) - New Historicism eines Stephen Greenblatt, führt Haug auf die Tatsache zurück, daß beide Methoden die notorischen Dilemmata der Literaturwissenschaft auszuschalten vermögen. Nicht nur läßt das als "Produkt der jeweiligen kulturellen Situation" verstandene Werk seine Qualität als "kreative Leistung eines bestimmten Autors" in den Hintergrund treten, womit auch das Problem der geschichtlichen Verrechenbarkeit des ‚aus der Geschichte Gefallenen' erledigt wäre; auch die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie stellt sich nicht, "denn die Literatur besitzt keinen privilegierten Status mehr." Schließlich: die "prekäre Relativität des interpretierenden Zugriffs hat sich in postmoderne Unverbindlichkeit verwandelt, die Unsicherheit der Deutung ist zu einer fröhlichen Tugend geworden." Seine letztendliche Weigerung, dem Banner des New Historicism zu folgen, begründet Haug damit, daß ein zu hoher Preis daran geknüpft wäre: "Es ist der Verzicht auf Geschichte, der Verzicht auf das individuelle Werk eines individuellen Autors, der Verzicht auf die Literatur als ein System eigener Art und schließlich der Verzicht auf eine durch das hermeneutische Risiko hindurch wenigstens potentiell in den Blick tretende Wahrheit" (85).
Fragt sich nun, wie der Entwurf einer Literaturwissenschaft, die sich, gleich den Kulturwissenschaften, "von globalen historischen Modellen" (86) abgewendet hat, aussehen kann. Haugs Vorschlag ist folgender: "Es sollte nicht mehr vorrangig um die Frage nach irgendwelchen Gesetzlichkeiten im Spiel dessen gehen, was literarhistorisch konstant bleibt und was sich wandelt, das Hauptinteresse sollte vielmehr der Konstanz eines literarischen Konzepts als einer Leistung gelten, einer Leistung, die dem Inkonstanten, Gegenläufigen abgerungen ist und die diesen Prozeß noch zeichenhaft in sich trägt, oder schärfer gesagt: es geht um Entwürfe, die sich als literarische Konstrukte im Querfeld außer- und gegenliterarischer Erfahrungen nur halten, um sich in Frage zu stellen; die lebendig-gespannte Konstanz des Dichterischen im Spannungsfeld seines Wirklichkeitszusammenhangs soll den Vorrang haben vor dem bloßen Aufweis von thematischer und formaler Konventionalität, die zur Veränderung drängt" (86-87). Auf das literaturwissenschaftliche Interpretieren gemünzt heißt dies, "daß man [...] methodisch konsequent auf das zu achten hat, was in einer Erzählung nicht aufgeht, denn der Sinn liegt [...] letztlich in den Aporien" (89). Damit wendet sich Haug gegen "harmonisierende Deutungsversuche" (92) und führt auch gleich aus seinem Spezialgebiet, der mittelalterlichen Literatur, einige Beispiele dafür an (Chrétien de Troyes, Erec, Wolfram von Eschenbach, Parzival und Willehalm, Gottfried von Straßburg, Tristan, Wernher der Gartenaere, Helmbrecht) wie ein solches auf Dissonanzen abgestelltes Interpretieren aussehen kann. (M.R.)

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Pörtner, Peter.1996. "Aneignung durch Enteignung, ein japanischer Weg. Flankierende Notizen zum Fremdverständnis, zur japanischen Literaturwissenschaft und zum Übersetzungsproblem" . Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990). Hg. von Lutz Dannenberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Stuttgart/Weimar: Metzler,478-491.

Schlagwörter: Literaturwissenschaft, Literaturgeschichtsschreibung, Hermeneutik, Germanistik, Übersetzung, Kulturtheorie

Abstract: Wie bereits dem Untertitel zu entnehmen, widmet sich der Aufsatz Peter Pörtners den Problemfeldern Fremdhermeneutik, Literaturwissenschaft und Übersetzung. Ausgehend von der Beobachtung einer gegenseitigen Ignoranz bezüglich der Tätigkeit deutscher Japanologen und japanischer Germanisten bietet der erste Teil eine Bestandaufnahme jener sowohl von japanischer als auch westlicher Seite im Rahmen des Japandiskurses häufig (und häufig axiomatisch) beschworenen soziokulturellen Merkmale, die eine erfolgreiche Kommunikationspraxis zwischen Japan und dem Westen verhindern: Verschlossenheit der Sprache, Mangel einer Ich-Identität in abendländischem Verständnis, maternelle gesellschaftliche Strukturen, eigentümliche Beziehung zur Natur, "religiöse Irreligiosität" . Ferner werden an dieser Stelle zwei Typen der Auseinandersetzung mit Japan vorgestellt: Projektion als Mechanismus, in dem das Bezugsobjekt in seiner Wirklichkeit ignoriert und lediglich als leere Fläche für in der eigenen Kultur nicht realisierte Vorstellungen wahrgenommen wird, sowie Übertragung, mittels der die eigene Kultur als vollendete Moderne, der Vergleichsterminus hingegen - in seiner Ganzheit oder Teilbereichen - als ungenügend differenziert erscheint. Der 2. Teil verfolgt die Frage, ob und inwieweit sich die heute noch propagierte Vorstellung einer Seelenverwandtschaft der Japaner und Deutschen als berechtigt erweist; untersucht wird die Problematik anhand zweier Komplexe: a) der Übernahme des deutschen Idealismus als Gegenkonzept zu "fortschrittlichen" Gedankenströmen und b) der Instrumentalisierung des Deutschen durch die japanische Werbesprache, die eine Wiedergabe von "Eigenschaften des ethno-kulturellen Stereotyps" (Haarmann) bewirken.
Ebenfalls am Beispiel der Sprache (Fremd- und Lehnwörter) thematisiert der 3. Teil das Phänomen der Japanisierung fremden Kultur- und Gedankenguts, die der Autor in Anlehnung an David Pollak als (Sinn)enteignung, Fraktur des ursprünglichen semantischen Gehalts und Maruyama Masao als Lösung aus dem historischen Kontext deutet. Es folgen Überlegungen zu den Mechanismen der kulturellen Sinnproduktion, die, so Pörtner, durch Umordnung, neue Strukturierung aufgenommener Inhalte gewährleistet wird. Der 4. Teil enthält vornämlich eine Kritik an den von Irmela Hijiya-Kirschnereit aufgezeigten Schwächen der japanischen Literaturgeschichtsschreibung: Schematismus, Fehlen einer Metasprache, Festhalten am Postulat von der Autonomie des Kunstwerkes resp. Biographismus. Der folgende 5. Teil - ein wiedergefundener
Ansatz des einleitenden Teiles - befaßt sich knapp mit dem seit den 60er Jahren unverändert kritischen Zustand der japanischen Germanistik. Den Abschluß bilden einige Überlegungen zum Problem der Übersetzung aus dem Japanischen, vordergründig gerichtet gegen den Anspruch der
Unübersetzbarkeit.

Kommentar: Dieser inhaltlich heterogene, assoziativ vorgehende, durch das Konzept der semantischen Fraktur des Fremden als Charakteristikum des japanischen Paradigmas lose zusammengehaltene Aufsatz entwirft primär ein Interpretationsmodell, das durch diachrone Untersuchung der japanischen Kultur zwar erhärtet wird, dem jedoch keinen höheren Gültigkeitsanspruch vor einigen anderen Entwürfen einzuräumen ist. Wie jene anderen - sowie das Interpretationsmodell allgemein - besitzt dieses einen fragmentarischen Charakter und leistet lediglich die Teilerklärung einer Teilansicht. Sekundär betreibt Pörtner eine Aktualisierung japanologisch relevanter Fragestellungen: nach Möglichkeiten und Grenzen der Hermeneutik sowie dem vielbeachteten Übersetzungsproblem.

Literaturhinweise: Haarmann, Harald: Prestigefunktionen europäischer Sprachen im modernen Literatur verstehen?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 (es ; N. F. 608).
Maruyama, Masao. Denken in Japan, Frankfurt/Main 1988 Pollack, David: The Fracture of Meaning, Princeton 1986. (D.L.)

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Schneider, Roland. 1992. "Literarisierung versus Moralisierung. Bemerkungen zu unterschiedlichen "Instrumentalisierungsweisen" in mittelalterlicher "Handwerker-Literatur" in Japan und Deutschland" . Nenrin - Jahresringe. Festgabe für Hans A. Dettmer. Hg. von Klaus Müller und Wolfgang Naumann. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 232-240.

Schlagwörter: Literaturwissenschaft, Interpretation, Vergleich, Instrumentalisierung, Ideologie

Abstract: Der Aufsatz Roland Schneiders vergleicht Darstellungen von Handwerker- und Berufsleben in der europäischen und japanischen
Literatur, wobei als Vergleichstermini zwei mittelalterliche Werke ausgewählt wurden: das Ständebuch Jost Amman's (1568) und das
Shichijûichiban shokunin utatawase (um 1500). Ziel des Beitrages ist es, durch inhaltliche, strukturelle und stilistische Analyse der Gedichte Sicht- und Behandlungsweise des Gegenstandes sowie literarische Utilitarisierung, Funktionalisierung, letztlich Instrumentalisierung von Handwerker- und Berufsleben aufzudecken. Die Studie beginnt mit der Ausarbeitung inhaltlicher und intentioneller Differenzen zwischen dem Ständebuch und Shichijûichiban shokunin utaawase. Im Falle des ersteren weist Schneider auf die exponierte Stellung realistischer Züge innerhalb zahlreicher Gedichte des Ständebuches hin: Schilderungen/Erwähnungen von Arbeitsabläufen, handwerklichen Produkten, materiellem Lohn (Geld), Aufforderung zum Kauf, Kundenanwerbung. Das Shichijûichiban shokunin utaawase hingegen greift zwar ebenfalls handwerkliches Vokabular, Berufsnamen, Produktbezeichnungen auf, doch handelt es sich dabei um Ornamente, dichterische Konventionen, die jeglicher Aussagekraft bezüglich der realen Situation des Handwerkerlebens entbehren. In dieser Haltung sieht der Verfasser eine Instrumentalisierungsweise, die er mit dem Begriff "Literarisierung" bezeichnet und wie folgt definiert: "[die] Nutzbarmachung bzw. Benutzung von Stoffen und Gegenständen zu literarisch-ästhetischen, auch rhetorischen Zielen, die nicht unmittelbar oder a priori im "benutzten" Gegenstand angelegt sind." (S. 236). Zur argumentativen Untermauerung folgen der Rekurs auf Beispiele von Literarisierung von Berufen als Element der lyrischen Tradition Japans sowie Hinweise auf die marginale Stellung des handwerklichen Vokabulars innerhalb der Gedichtstruktur und die zuweilen explizite Beanstandung einer davon abweichenden Handhabung durch die Poetologie. Der Literarisierung stellt der Verfasser die Instrumentalisierungsweise der Moralisierung entgegen, die er am Beispiel von Christoph Weigels Abbildung der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände ... bis auf alle Künstler und Handwerker thematisiert und als Repräsentant einer gewandelten literarisch-geistigen Landschaft deutet. Verglichen mit dem Ständebuch haben die Gedichte der Abbildung den Realitätsbezug eingebüßt und stellen Lehrgedichte dar, die zu gesitteter Lebensführung und Erlangung des Seelenheils gemahnen; das auftretende Handwerk/Handwerkervokabular wird - jenseits seines unmittelbaren Sinnpotentials - zu Bausteinen für eine moralisierende Intention umfunktionalisiert.

Kommentar: Der Aufsatz Roland Schneiders ist strikt in den Kontext der klassischen Japanologie bzw. Komparatistik zu situieren. Er verzichtet ganz auf theoretisierende Digression und verfolgt objektgerichtet die Frage nach Formen und Mechanismen von Instrumentalisierung, Ideologisierung ursprünglich "neutralen" Stoffes in der japanischen und deutschen Literatur. Die ausgearbeiteten Differenzen präsentiert der Verfasser als ausschließlich literaturwissenschaftliche Erkenntnisse und dementsprechend ist auch der Beitrag nur unter diesem Kriterium zu bewerten: sachlich, aufschlussreich und bei allem wissenschaftlichen Anspruch sehr leicht verständlich. Eine Extrapolierung auf den weiteren (inter)kulturellen Rahmen bleibt dem Leser selbst überlassen, ist jedoch ohne tiefere japanbezogene Kenntnis kaum zu leisten und - sowohl angesichts der begrenzten Anwendbarkeit von Extrapolationen als auch des Selbstverständnisses dieses Artikels - durchaus mit der Gefahr der Fehlinterpretation verbunden. (D.L.)

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Zima, Peter V. (Hg.). 2000. Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken. Tübingen: Gunter Narr Verlag

Schlagwörter: Interdisziplinarität, Interkulturalität, Vergleichende Literaturwissenschaft

Abstract: In diesem Band werden zum ersten Mal verschiedene vergleichende Wissenschaften miteinander konfrontiert und aufeinander bezogen. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung soll wenigstens ansatzweise überwunden werden, damit klar wird, welche methodologischen Anliegen den vergleichenden Disziplinen gemeinsam sind. Dabei spielen zwei Stichworte eine entscheidende Rolle: Interdisziplinarität und Interkulturalität. (Verlagstext)

Insgesamt wird deutlich, daß die vergleichende Methode Erkenntnisse zeitigen kann, die sich Nicht-Komparatisten entgehen lassen. Es geht hier jedoch nicht darum, deren Neid zu erregen, sondern darum, auf einige allen Komparatisten gemeinsame Anliegen aufmerksam zu machen, um die vergleichende Methode interdisziplinär ausbauen und konkretisieren zu können. Der vorliegende Band sollte gerade durch seine Lücken und offenen Fragen nicht nur die hier beteiligten, sondern alle interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einer Fortsetzung des komparatistischen Dialogs anregen. (Schlussabsatz des Vorworts)

Kommentar: Frage: Kann sich eine umfassende Begriffsbestimmung der politischen oder literarischen Romantik auf einen kulturellen Kontext beschränken?Sollte die Antwort ‚Nein' lauten, so kommt man schnell auf Berührungspunkte unterschiedlicher Wissenschaften, also zur Interdisziplinarität und Komparatistik und im hier vorliegender Band weiter noch: zur Interdisziplinarität verschiedener Komparatistiken. Eine Verständigung zwischen den einzelnen Disziplinen hängt immer auch davon ab, inwieweit die jeweiligen Vertreter eingestehen, dass ihre eigene Theorie nicht die einzig wahre und objektive ist, sondern ebenfalls - wie die anderen Komparatistiken auch - ideologisch, hier also kulturspezifisch gefärbt ist. Hierzu gehört auch die Erkenntnis, dass es z.B. nicht die Soziologie, sondern eine Vielzahl soziologischer Theorien gibt. (M.M.)
  

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III. Kulturwissenschaft / Systemtheorie

 

Berg, Henk de / Prangel, Matthias (Hgg.). 1993. Kommunikation und Differenz. SystemtheoretischeAnsätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Stichwörter: Dekonstruktionismus, Konstruktivismus, Systemtheorie, (Literatur-)Geschichtsschreibung, Literaturwissenschaft, Luhmann, Habermas

Abstract: Luhmanns Systemtheorie setzt bei der Kommunikation und damit bei dem Ereignis an, das individuelles Bewußtsein überhaupt erst in soziale Wirklichkeit transformiert und als Information greifbar, das heißt beschreibbar macht.

Kommentar: Vertreter der Germanistik, Anglistik, theoretischen Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft aus Deutschland, Holland und Belgien wollen in dieser Zusammenschau die Diskussion um Systemtheorie und Kunst fördern und sie auf interdisziplinäre und internationale Füße stellen. (M.M.)

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Fleischer, Michael. 1992. "Evolutionäre Systemtheorie der Literatur (ein Projekt)". Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik , 22, Nr. 87-88, 197-205.

Stichwörter: Offenes System, Teleologie und Möglichkeitsbündel, Diskurstheorie, Semiotik

Abstract: Literatur wird verstanden als evolutionärer Prozess mit eigenen Systemgesetzen und in Wechselwirkung mit dem Suprasystem ‚Kultur' und sozialen (Sub-)Systemen.

Kommentar: Der jeweilige Zustand der Literatur wird als Zwischenstation vor einer Entwicklung und nicht als Gleichgewichtsstand - mit einer Idealvorstellung von Literatur - gesehen. Das bedeutet, dass die Literatur immer auch auf Einflüsse von außen angewiesen sein muss, da sich aus dem stationären Zustand ansonsten ein starrer Zustand - ohne innere Veränderungsmöglichkeiten - ergeben würde. (M.M.)


  

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IV. Kulturwissenschaft / Interkulturalität

 

Appiah, Kwame Anthony. 2002. "États altérés" . Le Débat, 118. Paris: Gallimard, 17-33.

Kommentar: Der Aufsatz ist Appiahs 1992 erschienenem Essayband In My Father's House entnommen. Der aus Ghana stammende Autor, Professor für Philosophie am Du Bois Institute for African American Studies der Harvard University, gibt einen Überblick über die Entwicklung Afrikas seit dem Ende der Kolonialherrschaft. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Es erscheint ergiebiger, einen kurzen Artikel über Appiah von Andreas Eckert hinzuzuziehen ("Stolzer Ashanti. Kultur als Austausch", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. April 2002, N 3/ Geisteswissenschaften), in dem einige Thesen des Wissenschaftlers referiert werden. Zu nennen wäre z. B. die, wonach es "keine Rassen, aber Rassismus gebe" . Als Reaktion auf die Apartheidpolitik mag das angehen, gleichwohl ist es blanker Unsinn: Menschenrassen - lexikalisch definiert als "geographisch lokalisierbare Formengruppen des heutigen Menschen (Homo sapiens sapiens), die sich aufgrund überzufällig häufiger Genkombinationen mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden" - gibt es natürlich, und zwar Europide, Mongolide, Indianide und Negride, und es weist weder auf Schubladendenken noch auf Rassismus hin, diese Differenzierung, die kein Überlegenheits-/Unterlegenheits-Verhältnis zwischen den Rassen behauptet, als objektiv gegeben anzusehen. Hingegen ist es mehr als fraglich, ob Appiahs "kosmopolitischer Patriotismus" existiert und ob er, wenn es ihn denn gibt, eine brauchbare Kategorie darstellt: "Ein kosmopolitischer Patriot setzt sich nach Appiahs Definition keineswegs über die Vielfalt menschlicher Identitäten hinweg. Doch er leidet nicht an den Differenzen, sondern er genießt sie." Man darf das getrost ins Reich der Märchen verbannen, davon abgesehen, daß es etwas simpel ist und kaum empirischen Daten entsprechen dürfte. In die gleiche Richtung - man könnte sie als Ethnokitsch bezeichnen - weist auch folgendes, von Eckert durchaus zustimmend angeführtes Zitat: "Der Kosmopolit besteht darauf, daß es die Unterschiede sind, welche wir mit an den Tisch bringen, derentwegen es sich überhaupt lohnt, miteinander umzugehen." Niemand wird bestreiten, daß kulturelle Vielfalt ein bewahrenswertes Gut ist. Appiahs naives Bild vom (runden) Tisch, um den sich gleichberechtigte Partner oder auch Gegner versammeln, um aufgeklärt miteinander zu plaudern, unterschlägt aber vollkommen die kulturelle Dominanz des Westens, speziell des chairman Nordamerika: Der american way of life bestimmt heute, wo es lang geht; Appiah, seit langem amerikanischer Staatsbürger, müßte es eigentlich wissen. - In diesem Zusammenhang wäre auch auf den Wirtschaftfaktor Kultur zu verweisen, für den das Konzept des Kosmopolitismus überhaupt keine Rolle spielt, außer vielleicht in dem konsolidierenden Sinne, daß es von kritischen Fragen ablenkt.
Diskutabel ist des weiteren Appiahs These von der fortwährenden Evolution der Kulturen, die keineswegs zwangsläufig zu einer die Differenzen nivellierenden Angleichung, wohl aber zu wechselseitigen Austausch- und Aneignungsprozessen führe. Demzufolge bilden die Kulturen der Welt ein fluktuierendes System, das eine Festlegung dessen, was jeweils das Eigene und das Fremde ist, unmöglich macht. Ohne bestreiten zu wollen, daß sich Kulturen entwickeln, daß sie Einflüsse 'von außen' aufnehmen und ihrerseits beeinflussend wirken (können) - sie sind kein Pudding, und es ist sehr wohl möglich, das Eigene zu bestimmen. Wäre ein solches Bewußtsein des Eigenen nicht überhaupt die Voraussetzung für den respektvollen Umgang mit dem Anderen? Ist nicht alles egal, wenn alles 'egal' ist? Begibt man sich nicht der Möglichkeit, den Ursachen kultureller Erosion auf den Grund zu gehen und auf diesem Wege Gegenmittel zur Abwehr eines Prozesses zu finden, dem in Appiahs mythisch-organischem Modell die Unangreifbarkeit eines meteorologischen Ereignisses zuwächst, das sich nur beobachten, aber nicht kritisieren läßt?
Der auf den ersten Blick ultraliberale Ansatz Appiahs erweist sich bei näherem Hinsehen also als durch und durch ideologisch und herrschaftsfreundlich. Anstelle einer Kulturtheorie stiftet Appiah eine Kulturreligion, die die Probleme verkleistert, anstatt sie zu lösen. (M.R.)

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Breger, Claudia / Döring, Tobias (Hg.). 1998. Figuren der, des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam [u.a.]: Rodopi.

Schlagwörter: Gender Studies, Postkolonialismus, Kulturanthropologie, Kultureller Zwischenraum, Kulturanthropologie, Übersetzungswissenschaften

Abstract: Dieser Band stellt sich aktuellen Theoriefragen, die an den Schnittstellen von Gender Studies, Postkolonialismus, Übersetzungswissenschaft und Kulturanthropologie greifbar werden. In der Rhetorik all dieser Disziplinen haben Metaphern und Figuren der/des ‚Dritten' seit langem Konjunktur. Als Dritter Raum, Drittes Geschlecht, Hybridität, Fetisch, Sündenbock, Parasit oder Übersetzer/Verräter spielen sie höchst ambivalente Rollen im Raum zwischen binären Oppositionen, denn nicht selten affirmieren sie stabile Identitäten, die sie zugleich auch unterlaufen. Dieser Sammelband unternimmt es erstmals, die Gemeinsamkeiten und Differenzen all solcher Figuren zu erkunden, und untersucht ihre Funktionen in Diskursen über "Zigeuner", "Perverse", Geister, Gäste, Geiseln usw. auf komparatistischer Grundlage. Theoretische und historische Perspektiven verbindend, greift der Band auf vielfältige Weise in gegenwärtige kulturwissenschaftliche Debatten ein. Er richtet sich an Interessierte aus allen literatur- und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen. (Klappentext)

Kommentar: Das ‚Dritte' gewinnt seine Kontur aus der Dichotomie von das ‚Eine' und das ‚Andere' und hängt somit immer auch von unserer Wahrnehmung ab, die nicht zuletzt die Grenzen und Möglichkeiten der Figuren bestimmt bzw. zulässt. (M.M.)

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Heise, Jens. 2001. "Japan, ethnographisch - Fragen einer interkulturellen
Hermeneutik". 11. Deutschsprachiger Japanologentag in Trier 1999. Hg. von Hilaria Gössmann und Andreas Mrugalla. Hamburg: Lit , S. 621-625 (1. Ostasien - Pazifik 13).

Schlagwörter: Ethnologie, Kulturantropologie, Kulturtheorie, Japanologie, Hermeneutik, Interkulturalität, Interpretationsmodell

Abstract: beginnend mit der Kritik am traditionellen Begriff der Kulturwissenschaft, befasst sich Heise mit der am Beispiel einer japanologischen, der anglo-sächsischen Kulturantropologie verpflichteten Arbeit aus dem Jahre 1993 - Joy Hendrys Wrapping culture - aufgezeigten Relevanz der Ethnologie zu einer kulturwissenschaftlichen Neuinterpretation. Der knappe Aufsatz besteht aus 2 Teilen. Der erste referiert die nach Heise nicht nur die Ethnologie, sondern jedes Verstehen des Fremden betreffende "Krise der Repräsentation" - der Titel, unter dem die Ende der 70er Jahre einsetzende Diskussion zur kulturwissenschaftlichen Selbstbefragung der Ethnologie verläuft. Ausgehend von einem Rousseau-Zitat aus dem Essay über den Ursprung der Sprachen wendet sich der Verfasser einer bereits im 18. Jh. formulierten, ethnographischen Bedingung für ein angemessenes Verständnis des Menschen zu: der Notwendigkeit zur
Überschreitung der eigenen Kultur und Perspektivierung des Fremden. Dies ermöglicht den Übergang zu einigen Hinweisen zur Debatte um die Krise der Repräsentation" , die sich an der von Rousseau für ethnographisch entscheidend gehaltenen Stelle entzündet: der Einsicht, daß Eigenes und Fremdes nicht unabhängig von einem Bedeutungszusammenhang (einer Sprache) existieren; diese richtet sich gegen die Annahme, daß der Sprache, i. e. die Repräsentation, Substanz/Wirklichkeit vorausliegt. An dieser Stelle extrapoliert Heise und versteht die "Krise der Repräsentation als anderen Ausdruck für den Prozeß, "den die Geisteswissenschaften seit etwa 20 Jahren durchlaufen und der gesteuert ist von der Frage nach dem Status einer Kulturwissenschaft" (S. 622). Es folgen einige Bemerkungen zur Hermeneutik Gadamers, die die abendländische Tradition für nicht überschreitbar erachtet, sowie zum Gegenentwurf Wierlachers, der das Fremde nicht als Ganzes, dennoch unter bestimmten Aspekten zugänglich hält. Aus diesem Fragmentcharakter formuliert Heise drei Anforderungen an die interkulturelle
Hermeneutik: sie muß grenzüberschreitend, integrativ und dialogisch sein. Der zweite Teil befasst sich mit Joy Hendrys ethnographisch orientiertem Wrapping culture, das die Verbindlichkeiten für eine interkulturelle Hermeneutik erfüllt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die japanische Kultur zahlreiche Formen des Verpackens/Verbergens/Verhüllens aufweist, entwickelt Hendry die Interpretationsthese, dass es sich dabei nicht um das Verbergen von Inhalten, sondern um die Belegung von Gegenständen mit einer zusätzlichen Bedeutung, um die Vergabe von Signaturen handelt. Abschließend erfolgt eine Argumentation, die die Merkmale des Wrapping culture als für eine interkulturelle Hermeneutik verbindlich ausweist: grenzüberschreitend, da für verschiedene Disziplinen offen; integrativ, da die einzelnen Formulierungen in verschiedene Diskurse übersetzbar; dialogisch, da die Kultur Japans nicht als Objekt, sondern als Bedeutungszusammenhang wahrgenommen wird.

Kommentar: mit diesem Aufsatz erbringt der Japanologe und Philosoph Jens Heise auf knappstem Raum eine dreifache, intra- sowie
interdisziplinär wirksame Leistung. Erstens wird hier der Japanologie, dem Fach ohne Methodik, mit der etnographischen Arbeitsweise nicht nur ein methodisches Instrumentarium angeboten, das sich - dies haben Publikationen wie Birgit Grieseckes Japan dicht beschreiben demonstriert- als äußerst fruchtbar erweisen kann, sondern auch die Möglichkeit einer kulturwissenschaftlichen Selbstbestimmung. Zweitens stellt der Aufsatz eine Aktualisierung der - besonders für Disziplinen wie die Japanologie, die mit europäischen Kategorien und Denkmustern an einen nicht-europäischen Forschungsgegenstand herangehen - aktuellen Debatte um das Verständnis des Fremden. Schließlich drittens gelingt es Heise - ähnlich R. A. Mall - Anforderungen an eine noch nicht institutionalisierte interkulturelle Hermeneutik pointiert zu formulieren und somit zur Festlegung eines noch nicht geschlossenen wissenschaftlichen Paradigmas beizutragen.

Literaturhinweise: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der Repräsentation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. - Hendry, Joy: Wrapping Culture. Politeness, Presentation and Power in Japan and other Societies, Oxford: UP 1993. (D.L)

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Kähler, Klaus, E. Intersubjektivität und absolutes Wissen bei Hegel. (Zu erhalten beim Autor)

Schlagworte: Intersubjektivität, Subjektivität, Hegel, absolutes Subjekt, Idee, Kritik, intersubjektive Strukturen

Abstract: Kähler untersucht das Verhältnis von Intersubjektivität und absolutem Wissen bei Hegel. Intersubjektivität definiert er dabei wie folgt: "Die verschiedenen Weisen und Stufen der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem sind der Sache nach jeweils Instanzen von Intersubjektivität, in welcher die als Individuum existierende Subjektivität sich vorfindet und versteht" . Bei der Bestimmung des Verhältnisses unterscheidet er grundsätzlich drei Konzeptionen: a) im Ausgang vom Ganzen; b) im Ausgang vom Einzelnen; und c) ausgehend von der Wechselbeziehung von Intersubjektivität und individueller Subjektivität. Dabei hält K. fest, das im hegelschen Denken nur letztere Gültigkeit hat: "Nur wenn das Selbstbewusstsein seine zufällige Partikularität überwindet, nicht nur als Einzelnes agiert, sich vielmehr mit dem herrschenden Allgemeinen zu verbünden weiß, kann es verändernd auf die Gestaltung der Intersubjektivität oder gar der substantiellen Sittlichkeit einwirken" (1). Dabei kann sich Intersubjektivität nicht auf partikulare Beziehungen zwischen besonderen Individuen beschränken, sondern muss sich auf die institutionelle Seite des Allgemeinen beziehen, die das gemeinschaftliche Leben ermöglichen, strukturieren und fördern. Diese Institutionen sind dem Menschen einerseits eine vorhandene Welt, gleichsam eine "zweite Natur" . Andererseits kann diese "zweite Natur" nur in Interaktion mit dem Subjekt bestehen, muss also ein Ort der Freiheit sein, der sowohl substantiell als auch individuell ist. "Das Subjekt, als die an und für sich seiende Substanz aller endlichen Subjektivität und Intersubjektivität, ist, indem es so gesetzt und entwickelt ist, " absolutes Subjekt" . Damit hält Hegel an der cartesischen Selbstgewissheit des Bewusstseins fest.

Kommentar: Ausgehend von der hegelschen Definition von Intersubjektivität sucht Kähler die kritische Überschreitung: "Wenn die Philosophie Hegels überboten werden soll durch das Prinzip der Intersubjektivität, so muß sie in sich ("immanent" ) kritisiert werden" (13). Kähler macht entsprechend die Gegenrechnung auf, indem er die hegelsche Theorie aus den Sphären der rein ideellen Erscheinungen auf realphilosophischen Boden stellt. Im Gegensatz zur spekulativen Aufhebung des Endlichen setzt er die Abhängigkeit des Absoluten von seiner Erscheinung, Die Idee ist abhängig von ihrer Erscheinung als Natur, der Geist von seiner Natürlichkeit: "Das Resultat Hegels, dass die volle Wirklichkeit eben nicht die des absoluten Geistes rein für sich sein kann [...] als Krisis des absoluten Subjekts zu lesen [...] kann den Weg frei machen für eine philosophische Wiedergewinnung der Realität der intersubjektiven Strukturen und Prozesse" (18). Dieser Gedankenansatz ist Kählers eigentliches Anliegen. (S.B.)

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Mall, Ram Adhar (Hg.). 1993. Philosophische Grundlagen der Interkulturalität. Studien zur Interkulturellen Philosophie. Amsterdam [u.a.]: Rodopi.

Schlagworte: Interkulturalität, interkulturelle Philosophie

Abstract: Neben einer begrifflichen und inhaltlichen Klärung der Interkulturalität geht es in den Beiträgen um eine grundsätzliche Diskussion und Standortbestimmung der interkulturellen Philosophie in dem heutigen Weltkontext der Philosophie. Der heutige weltphilosophische Kontext bedarf einer komprehensiveren Hermeneutik (Klappentext).Das "Verstehenwollen" und das "Verstandenwerdenwollen" gehören unmittelbar zusammen und machen das Motto der inter- bzw. intrakulturellen Philosophie aus.

Kommentar: Nach einem ersten Teil, der um die begriffliche, methodologische und inhaltliche Klärung der "interkulturellen Philosophie" bemüht ist, geht es in einem zweiten Teil vor allem um eine Anwendung dieser Philosophie. Es werden philosophische, phänomenologische und interdisziplinäre Ansätze aus interkultureller Sicht vorgestellt, entfaltet und angewandt. (M.M.)

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Reckwitz, Andreas. 1997. Kulturtheorie, Systemtheorie und das sozialtheoretische Muster der Innen-Aussen-Differenz. Zeitschrift für Soziologie, 26, Nr. 5, 317-336.

Schlagwörter: Konstruktivistische Systemtheorie, Leitunterscheidung, psychische und soziale Systeme, Holismu

Abstract: Luhmanns konstruktivistische Systemtheorie und die neueren Ansätze einer kulturtheoretischen Analyse wissensangeleiteter sozialer Praktiken, wie sie exemplarisch bei Bourdieu und Giddens präsentiert wird, vollziehen die ‚interpretative Wende' in den Sozialwissenschaften in einer jeweils konträren Theoriearchitektur. Luhmann baut mit seiner Leitunterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen in Anlehnung an Descartes, Husserl und Durkheim auf einer Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein und Sozialwelt auf. Die Kulturtheorien bei Bourdieu und Giddens distanzieren sich hingegen in Anlehnung an Saussure und den späten Wittgenstein von dieser Innen-Außen-Differenz und gehen statt dessen von der analytischen Leitdifferenz zwischen Wissensstrukturen und Handlungspraxis aus. Rekonstruiert man Systemtheorie und Kulturtheorien in dieser Weise, verschieben sich die Fronten gängiger Theoriekritik: Die Kulturtheorien erscheinen nicht als ‚individualistisch', sondern umgekehrt als Vertreter eines sozialen Regelholismus. Demgegenüber besitzt Luhmanns vorgeblicher Holismus im Begriff des psychischen System eine individualistische Kehrseite und sieht sich mit der kulturtheoretischen Kritik konfrontiert, soziales ‚Wissen' auf Semantik zu reduzieren. (Zusammenfassung zu Beginn des Textes)

Kommentar: Ausgehend von mehreren Metatheorien der Sozialtheorien (social facts, social behaviour, social definition), die parallel nebeneinander existieren, zeigt Reckwitz die nachdrücklichste Veränderung auf dem Gebiet des social-definition-Paradigmas, das sich zu kulturtheoretischen bzw. systemtheoretischen Ansätzen entwickelt hat. Er stellt dabei den systemtheoretischen Konstruktivismus Luhmanns (Stichwort: Autopoiesis) gegen die Beobachtungen der Gesellschaft, wie sie von Bourdieu und Giddens vorgenommen wurden (Stichwort: wissensangeleitete soziale Praktiken). Dabei macht er die Rekonstruktion von sozialen Sinnzusammenhängen als deren grundlegende Gemeinsamkeit aus, um dann aber auf die grundlegenden Unterschiede hinzuweisen, die er nicht als Gegenüberstellung von ‚individualistisch' und ‚holistisch' charakterisiert, sondern vielmehr als das jeweilige Verhältnis der einzelnen Theorieansätze zur Innen-Außen-Differenz - also dem Verhältnis von Bewußtsein zur Außenwelt bzw. von psychischen zu sozialen Systemen. (M.M.)

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Uerlings, Herbert . 1997. "Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte". Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 92. Tübingen: Niemeyer.

Schlagwörter: Interkulturalität, Intertextualität, Ethnopoesie, Alterität, Dekolonisation, Dekonstruktion, New Historicism, Postkoloniale Theorie

Abstract: Zu den Kernfragen der interkulturellen Germanistik gehört die nach dem Verhältnis von kultureller und poetischer Alterität: Welche Möglichkeiten und Grenzen haben ästhetische Texte bei der Repräsentation kultureller Differenz? Dieser Frage geht die Fallstudie zu "Haiti" bei Heinrich von Kleist ("Die Verlobung in St. Domingo"), Anna Seghers ("Karibische Geschichten", "Drei Frauen aus Haiti"), Heiner Müller ("Der Auftrag"), Hans Christoph Buch ("Die Hochzeit von Port-au-Prince") und Hubert Fichte ("Xango") nach. (Verlagstext)

Kommentar: Auf der einen Seite steht Haiti aufgrund seiner Geschichte in einem engen Verhältnis zur europäischen (Entdeckung durch Kolumbus, Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich), auf der anderen Seite verkörpert es aber auch das Exotische (Stichwort Voodoo). Davon ausgehend stellt sich die Frage, was eigentlich das ‚Fremde' ist und ob eine europäische Sicht auf außereuropäische Phänomene nicht immer auch eine Form der Selbstrepräsentation ist? Neben den Betrachtungspunkt der poetischen Alterität tritt somit auch die Frage nach der kulturellen Alterität. (M.M.)

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Uerlings, Herbert u.a. (Hgg.). 2001. "Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart". Studienreihe Romania, 16. Berlin: Erich Schmidt Verlag.

Schlagwörter: Interkulturalität, Geschlechterdifferenz, Genderforschung, Kolonialismus und Postkolonialismus, feministische Kulturkritik, Ethnisierung

Abstract: Die Beiträge dieser Veröffentlichung befassen sich mit der Konstruktion außereuropäischer Kulturen in der europäischen Kunst und Literatur. Im Kern geht es dabei um den Zusammenhang zwischen kultureller und sexueller Differenz und seine Bedeutung für die Konstituierung eines europäischen Subjekts, das in der Konstruktion eines "Anderen" seine deutlichen Konturen erhält. Nach einführenden Darstellungen über die Diskursfelder und Kategorien der Alterität werden in einer Reihe von Fallstudien Konstruktionen von Alterität durch metaphorische Verschiebungen zwischen Körper- und Raumbildern, Sexualität und Geographie, interner und externer Fremdheit untersucht. Die Beiträge thematisieren u.a. die Kunst des Errötens in der Malerei des 18. Jahrhunderts, die Darstellung der "Anderen" in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur oder die Repräsentation der Indianer im Rasse- und Geschlechtsdiskurs der deutschen Spätaufklärung. (Verlagstext)

Ob und inwiefern die ästhetische Differenz der Kunst dazu genutzt wird, geläufige Diskursivierungen kritisch zu unterlaufen oder zu dezentrieren, ist eine der zentralen Fragen des Bandes. Die Beiträge stammen aus unterschiedlichen Disziplinen der Anglistik, Ethnologie, Germanistik, Kunstgeschichte, Romanistik und Soziologie. So wird der gemeinsame Gegenstand pointiert und perspektivenreich herausgearbeitet: die Regeln und Muster des Diskurses der Andersheit, die Deutungsmetaphern und Denkfiguren der Alterität. (Klappentext)

Kommentar: Die leitende Hypothese der Beiträge (entstanden als Dokumentation eines interdisziplinären internationalen Kolloquiums) ist, daß bei der Konstituierung eines neuzeitlichen europäischen Selbst durch die Konstruktion von ‚Anderen' der Überschneidungen von kulturellen und sexuellen Differenzen eine Schlüsselrolle zukommt. Das Werk ührt die Interkulturalitätsforschung und die feministische Kulturkritik zusammen und versucht dadurch ein neues Paradigma zu implementieren. (M.M.)

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Weber-Schäfer, Peter. 1997. "Das dritte Auge und die Einheit von Ja und Nein. Über interkulturelles Verstehen und seine Verhinderung durch wohlmeinende Ignoranz" . Wasser-Spuren. Festschrift für Wolfram Naumann zum 65. Geburtstag. Hg. von Stanca Scholz-Cionca. Wiesbaden: Harrassowitz, 141-158.

Schlagwörter: Interkulturalität, Hermeneutik, Stereotype, Rationalität,
Irrationalität, Logik

Abstract: Im Zentrum der Darstellung Peter Weber-Schäfers steht die essentielle Frage nach der Möglichkeit interkulturellen Verstehens, die der Verfasser durch Bestandaufnahme sowie Analyse einiger Stereotype zu beantworten sucht, die im Kontext der Beschwörung unüberbrückbarer Differenzen resp. weitestgehender Übereinstimmungen zwischen westlichem und östlichem Denken wiederholt auftauchen. Als den interkulturellen Dialog hinderndes Mißverständnis wird auf westlicher Seite die Neigung zur Exotisierung der ostasiatischen Kunst- und Geisteswelt zu einer der europäischen Rationalität überlegenen "Weisheit des Ostens" angeführt; dieser Entwicklung steht auf östlicher Seite wiederum eine Selbstexotisierung gegenüber, die Tendenz zur Singularisierung der eigenen Kultur und ihrer Erklärung für diskursiv unzugänglich. Als Bespiele solcher Beurteilungsstereotype, die zudem die Isolierung des Gegenstandes aus dem realkulturellen Zusammenhang sowie seine Nutzbarmachung in davon divergierendem Sinne zur Folge haben, führt der Autor u. a. den westlichen Umgang mit dem Zen-Buddhismus an. Anschliessend werden zum einen Hintergründe der europäischen Zen-Rezeption untersucht, zum anderen die Frage nach der Legitimität der Kategorisierung Japans als "Land des Zen" gestellt. Ebenfalls kritisch hinterfragt wird die mit der Lokalisierung ostasiatischer Kulturen jenseits der Rationalität verbundene sowie pauschal vorgenommene Ablehnung der These von der universellen Gültigkeit der Logik seitens westlicher Intellektuellen. Es folgen einige Ausführungen zur Doppelkonnotation des Begriffes "Logik" als a) "Mindestkatalog von Regeln, denen Denken und Sprache folgen müssen, um realitätsadäquate und kommunikativ vermittelbare Aussagen über die Welt zu ermöglichen" (S. 154) und b) "System von Aussagen darüber, was die formale Gestalt dieser Regel ist und welche Bedeutung sie für vernünftiges Sprechen über die Welt haben" (ebd.) sowie zum Gefahrenpotential einer ungenügenden Differenzierung zwischen Logik als universell menschlichem Attribut und akademischer Disziplin, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn Ostasien die Entwicklung einer lediglich rudimentären Logik vorgehalten wird. Der Aufsatz schliesst mit der Beantwortung der anfangs gestellten Frage nach der Möglichkeit interkulturellen Verstehens, die, so Weber-Schäfer, in eben der Universalität der Vernunft begründet liegt und durch vorrangige Aktivierung der allgemein menschlichen Erfahrung vs. Favorisierung einer kulturgebunden partikulären Symbolik verwirklicht werden kann.

Kommentar: Dieser Aufsatz, zu dem der Verfasser bescheiden vorbemerkt, er entspreche formal eher dem anekdotischen japanischen Essay als dem strengen wissenschaftlichen Diskurs (S. 141), wäre - gäbe es eine solche - der Rubrik "Was man/Japanologe schon immer sagen wollte, sich jedoch nie traute" zuzuordnen. Mit seltener Prägnanz, Pointiertheit und auch Humor unterzieht Weber-Schäfer einige repräsentative, aus der langen Reihe "interkultureller Verwirrungen" ausgewählte Bespiele von populären Irrtümern und Missverständnissen einer tiefgehenden Kritik sowie der Richtigstellung, ohne dabei in den - anderswo häufig anzutreffenden - erhabenen Sarkasmus des Initiierten zu verfallen. Er
wendet sich mit beachtlicher Kenntnis nicht nur fachwissenschaftlicher Inhalte, sondern auch bezüglich der von diesen erlittenen Verzerrungen gegen zwei ihrer Position nach zwar diametral entgegengesetzte, in ihrer Oberflächlichkeit sowie Verkennung und Missdeutung kultureller Faktizität jedoch gleichartige Typen der Auseinadersetzung mit Ostasien: zum einen die Exotisierung, Idealisierung, pseudoesoterische Verklärung (im behandelten Falle vornehmlich des religiösen Gedankenguts), zum anderen die Minimalisierung kultureller Leistungen durch Anwendung eines inadäquaten methodischen Instrumentariums und einer ungenügend differenzierten Terminologie. Der Aufsatz macht deutlich, dass Interkulturalität - will diese mehr als ein schmuckes, neumodisches Etikett sein - nur verbunden mit einer fundierten Kenntnis eben der Kultur(en) als sinnvoll erscheint. Der Lösungsvorschlag zum interkulturellen Verstehen mag in seinem Lakonismus manch einen Theoretiker stören, bleibt jedoch, zumindest im Dienste einer Bewegung "zurück nach vorn", unangreifbar. Es bleibt zutiefst zu bedauern, dass dieser Beitrag seine (zu Protagonisten gewordenen) Adressaten wohl nicht erreicht. (D.L.).

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Yamaguchi, Osamu. 1995. "Skizzen zum Thema: "Wenn Kulturen sich begegnen"". Lux Oriente. Begegnungen der Kulturen in der Musikforschung. Festschrift für Robert Günther zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus Wolfgang Niemöller et al. Kassel: Gustav Bosse, S. 493-501.

Schlagwörter: Musikforschung, Kulturaustausch, Interkulturalität, Kulturrelativismus, Kulturtheorie

Abstract: der Aufsatz Yamaguchi Osamus besteht aus 5 quantitativ gleichen Teilen, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt kurz behandeln. Begonnen wird mit einer mit Beispielen untermauerten, extensiven Definition der Kultur als Gesamtheit dessen, was Menschen innerhalb eines bestimmten Raumes und Zeitverlaufs hervorgebracht haben und hervorbringen. Kultur/Zivilisation entsteht aus der Objektivierung der Naturphänomene Klang, Licht, Duft und Wärme; ihre emotionell und intellektuell getätigte Transformation in Kunstgebilde oder religiöse Handlungen dient dem Menschen als sozialem und religiösem Wesen zur Kommunikation mit Menschen oder Gott. Der 2. Teil
enthält einige Überlegungen zum Prozess des Kulturaustausches; hierbei werden am Beispiel der Musikinstrumente zuerst Unterschiede zwischen Völkern als klimatisch bedingte Phänomene, anschliessend der als die eigene Kultur erweiternd verstandene Austausch der (Musik)kulturen thematisiert und an der Akkulturation der Ryûkyû-Inseln exemplifiziert. Es folgt eine Feststellung zur situationsbedingten Unvermeidbarkeit einer Etikettierung von Kulturen (japanische Kultur, westafrikanische Kultur, etc.) sowie zum Sinngehalt einer solchen in der Spezifizierung von Kultur. Der 3. Teil befasst sich, von der philologischen Analyse und Interpretation eines belauischen Sprichwortes ausgehend, mit der Relevanz des Faktors Zeit für die Kulturproduktion. Der 4. Teil greift die Thematik des 2. Teiles wieder auf und vertieft sie durch Überlegungen zu den Mechanismen des Eintrittes in eine andere Kultur: Neugierde als Ausgangspunkt/Auslöser, Diskriminierung als häufige Reaktion des Nicht-Verstehens, schliesslich das Verstehen als Lernerfahrung. Der letzte Teil befasst sich mit der Konfrontation des
Westens mit fremden Kulturgütern: der die Kolonisation begleitende Kulturraub wird insofern relativiert, als dass er einen Paradigmenwechsel
ermöglichte, durch den der Europäer - bis dahin sich ausschließlich in den Grenzen der eigenen Kultur aufhaltend - eine "unvergleichlich flexible
Denkweise" (S. 500) entwickelte. Einen derartigen Paradigmenwechsel erachtet der Autor als allen modernen Wissenschaften zugrunde liegend und zugleich revolutionierendes Element im Bereich der Künste (Beispiel Debussy). Abschliessend werden die vorherigen Aussagen wiederholt
relativiert, indem auf negative Folgen eines solchen Kulturrelativismus - Unvermögen, das Wesentliche einer Kultur zu determinieren - hingewiesen wird.

Kommentar: der Aufsatz Yamaguchi Osamus versteht sich als ein am Fallbeispiel der Musikforschung vorgenommener Beitrag zur interkulturellen Hermeneutik, der verstärkt Problemfelder wie das Verstehen des Fremden und das konstruktive Potential kulturellen Austausches thematisiert. Leider vermag er wenig zu überzeugen: die Darstellung erweist sich als konventionell, an theoretischer Untermauerung sowie Lösungsvorschlägen mangelt es gänzlich, ein weitestgehend expositorischer Charakter kann nicht überwunden werden. Bedenklich stimmt auch die Tributarität gegenüber Watsujis Klimatologie sowie der strittige Glaube an das didaktische Potential der Geschichte. Es überwiegen tendenziell vom japanischen Diskurskontext nicht zu trennende Elemente wie die Betonung des Menschen in
seiner Funktion als Gemeinschaftswesen und der für den westlichen Leser häufig irritierende deskriptive Duktus - der Vorwurf Irmela Hijiya
Kirschnereits bezüglich der japanischen Gepflogenheit, über schöne Inhalte schön zu schreiben wird von diesem Aufsatz erhärtet

Literaturhinweise: Hijiya-Kirschnereit, Irmela: Was heißt: Japanische Literatur verstehen?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 (es ; N. F. 608). (D.L.).

 

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