Kommentar:
In seiner - wie der Titel bereits anzeigt - polemischen Besprechung
des 2000 erschienenen Sammelbandes Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft
(München: Fink), der eine an der Berliner Humboldt-Universität
gehaltene Vorlesungsreihe Friedrich Kittlers zur Einführung in
die Kulturwissenschaft dokumentiert, übt Vollhardt scharfe Kritik
an dieser, nach Kittlers eigenen Worten, "unbegründbaren"
(zitiert 716) Disziplin, die sich in ihrer Berliner Ausprägung
s.E. darin erschöpft, "ohne die Last philologischer Ansprüche
und ungestört von kritischen Einsprüchen oder dem kontrollierenden
Blick von Kollegen über heilige Texte' [nachzudenken] und
in aller Ruhe das Rad neu [zu] erfinden" (716).
Kittlers Vorlesungen widmen sich Vico, Herder, Hegel, Nietzsche, Freud
und Heidegger, die als Gewährsmänner der neuen Wissenschaft
vorgestellt werden, was Vollhardt zu der süffisanten Bemerkung
veranlaßt, bislang habe man "die genannten Autoren in anderen
disziplinären Bezirken gesucht" (713). Er greift sich v.a.
das Vico-Kapitel heraus, um Kittler unseriöses Arbeiten nachzuweisen.
Dieser zitiere den Philosophen nämlich nicht im Original und
unter Zuhilfenahme einer verläßlichen deutschen Übersetzung,
sondern ausgerechnet "nach der schmalen Auswahl-Übersetzung
von Erich Auerbach aus den zwanziger Jahren" - einer Übertragung
"nicht [...] ins Deutsche, sondern ins Deutsch-Philosophische
des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts" (714) - die nach Ansicht
Jürgen Trabants lange "das Haupthindernis zum Zugang zu
Vico in Deutschland" war (714). Darüber hinaus vermißt
Vollhardt die Einbeziehung neuerer Interpretationen sowie die Berücksichtigung
der Ergebnisse der Quellenforschung. "Kittler vertraut statt
dessen seinen steckengebliebenen Lesezeichen in der Rowohltschen Taschenbuchausgabe,
an denen entlang er noch einmal die inzwischen fragwürdig gewordene
Geschichte von 'Vicos Kulturwissenschaft als Absetzung von der neuzeitlichen
Naturwissenschaft' erzählt" (715). Nachdem er Kittlers Bedauern
darüber zitiert hat, daß "kulturwissenschaftliche
Theorien nicht von der strahlenden Kontextfreiheit heutiger Programmiersprachen"
seien (715), bescheinigt er ihm, "wenigstens" in seiner
Deutung der Herderschen Kulturtheorie zur "(historischen) Kontextfreiheit"
gefunden zu haben (716). Herders Diktum vom "Menschen als Mängelwesen"
sei nämlich "ohne Kenntnis der naturrechtlichen Denkfigur
der imbecillitas mentis nicht adäquat [zu] verstehen. Aus ihr
erklärt [sic] sich die soziale Natur des Menschen und seine Sprachfähigkeit,
die Lehre vom Instinktmangel erhält eine methodische Funktion
im Zusammenhang der nach-grotianischen Gesellschaftstheorien"
(716). Indem Kittler diese Traditionslinie, die von Hugo Grotius zu
Herder führt, kappt, reduziert er "das komplexe anthropologische
Modell" auf einen "selbstbezüglichen Effekt der im
übrigen neurotische Zwänge produzierenden Kernfamilie"
(716).
Der Begeisterung des Rezensenten der FAZ (26. Februar 2001), den Vollhardt
mit den Worten zitiert: "Die Philologie ist noch nicht am Ende",
vermag er sich unter diesen Umständen nicht anzuschließen:
"Es sind [...] zu viele Ausführungen Kittlers, die im Niemandsland
zwischen philologischer Wissenschaft und kulturphilosophischer Erzählung
ihre Konsistenz verloren haben. Hinzu kommt, daß derartige Einwände,
Korrekturen und Hinweise im Denk-, Sprech- und Schreibstil der neuen
Berliner Kulturwissenschaft als kleinlich und borniert erscheinen"
(716). Mit dem Hinweis auf das Buch von Alan Sokal und Jean Briemont
Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften
mißbrauchen (München: Beck) gibt Vollhardt zu verstehen,
was er von der "neuen Berliner Kulturwissenschaft" und ihrem
berühmten Cheftheoretiker hält, nämlich nichts. (M.R.)