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Bueno, Gustavo. 2002. Der Mythos der Kultur. Essay einer materialistischen Kulturphilosophie (Einl. und Übers. v. Nicole Holzenthal). Bern: Peter Lang.

Kommentar: Was ist der Unterschied zwischen der Wirkung einer Aspirin und dem Besuch in der Oper? Kein wesentlicher, meint der spanische Philosoph Gustavo Bueno Martínez, der an der Universität von Oviedo bis 1998 als Professor für "Grundlagen der Philosophie und Geschichte der philosophischen Systeme" lehrte. Beides sind Tatsachen, die ihre konkrete Funktion als Beruhigungsmittel gleichermaßen gut erfüllen. Eine Kopfschmerztablette ist sogar viel billiger als eine Eintrittskarte in die Oper und sie täuscht - im Gegensatz zur "Stimmakrobatik" - nicht vor, den Benutzer in den Zustand "eines höheren geistigen Lebens" zu versetzen.

Den metaphysischen Anspruch der Kultur untersucht Gustavo Bueno in der systematischen Studie mit dem Titel Der Mythos der Kultur, mit dem jetzt erstmals ein Buch Buenos auf Deutsch erschienen ist. Bislang dürfte der 78-jährige Philosoph bestenfalls dem deutschsprachigen Fachpublikum bekannt sein, da Bueno für die Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften einige Einträge verfasste. In Spanien ist Bueno als Gründer der philosophischen Zeitschrift El Basilisco, als gefragter Teilnehmer an öffentlichen Debatten und vor allem als Begründer und Urheber eines sehr stichhaltigen und kohärenten philosophischen Systems bekannt, dem "philosophischen Materialismus". Der emeritierte Professor arbeitet seit 1998 mit rund dreißig Mitarbeitern und Schülern an seiner Akademie, der Fundación Gustavo Bueno, die auch als "Schule von Oviedo" bezeichnet wird, mit diesem System in verschiedenen Bereichen der Wissenschaften oder der Philosophie. Charakteristisch für den philosophischen Materialismus ist die kritische, dialektische und häufig auch polemische Auseinandersetzung mit der Realität, dem "ontologischen Material", und eine radikale Umdeutung der Ideen der "Welt", der "Seele" und "Gottes", die auf drei verschiedenen Arten von Materialität fußen: die der physischen Phänomene, die der psychischen und gesellschaftlichen und schließlich diejenige der logischen und theologischen Phänomene.

Die Ideen - so Bueno - sind damit weder vom Himmel gefallen, noch schwirren sie im Äther umher; sie haben eine Geschichte, die es zu untersuchen gilt. Wie agieren Mythen, Institutionen, kulturelle Gebilde, fragt Bueno, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, darüber hinaus auch das Funktionieren von Wissenschaften zu hinterfragen: Was ist die Wissenschaft? Was ist Bioethik? Was ist die Anthropologie? Was ist Natur? Was ist Kultur? Dabei wendet sich Bueno mit seinem Denksystem zudem gegen die "spiritualistischen" Ansätze, mit denen er die Philosophie des Geistes meint.

In Der Mythos der Kultur stellt Bueno dar, wie im 19. Jahrhundert, ausgehend von den Ansätzen deutscher Philosophen - Bueno bezieht sich vor allem auf Herder, Fichte und Hegel - die Idee der Kultur entstanden und wie sie bis heute strukturiert ist. Eine entscheidende Verselbständigung der Idee der Kultur, "ihre Substanzialisierung", macht Bueno in der kleinbürgerlichen Gesellschaft aus, wenn der Begriff "Kultur" die Konzepte wie Ausbildung, Erlernen und Aneignen verdrängt und im Sinne einer geistigen "Kultivierung" verstanden wird, bei der es weniger um das Erlangen bestimmter Fähigkeiten geht, als vielmehr um soziale Abgrenzungsmechanismen. Bueno führt das "kultivierte Fräulein" an und fragt, warum es ausgerechnet Klavier und Französisch, nicht aber Hebräisch und Akkordeon lernen musste? Die Gesellschaft gibt die jeweiligen Parameter vor, durch die eine vermeintliche "Kultiviertheit" gesteuert wird, die zugleich den Zugang zu einer bestimmten Schicht oder Gruppe verspricht und darüber hinaus eine Art geistiger Erhöhung.

Bueno kommt zu dem Schluss, dass sich die Idee der Kultur als Nachfolgerin der im christlichen Mittelalter geläufigen Idee des Gnadenreiches etabliert hat: "Das Reich der Kultur war dazu bestimmt, die Funktionen des von ihm ausgeschalteten Reiches auszuüben, nämlich die Funktionen des heilenden Prinzips, des erhebenden und heiligmachenden Prinzips." Wo einst ein Priester stand, tanzt heute Michael Jackson oder singt eine Operndiva. Die Idee der Kultur verleiht - laut Bueno - simplen Handlungen ein maßloses und irrationales Prestige, legt Identitäten fest, politische Spielräume und neue Staaten. Bueno erwähnt in diesem Zusammenhang immer wieder die separatistischen Strömungen in Spanien. Dass das Konzept der Nationalkultur oder Staatskultur nicht nur einschläfernd ist, sondern auch gefährlich, liegt dabei auf der Hand.

Die Übersetzung von Der Mythos der Kultur verfasste Nicole Holzenthal, die selbst zum Team der "Schule von Oviedo" gehört und zu Buenos Studie eine sehr hilfreiche Einführung verfasst hat. Darüber hinaus wurde das Glossar um einige wichtige Einträge erweitert, so dass dem deutschsprachigen Leser damit ein relativ leichter Einstieg in Buenos komplexes Denken ermöglicht wird. (Gabriella Vitiello)