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KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE
Sennett, Richard. 1998. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin.

Textauszug: Heute wird der Begriff "flexibler Kapitalismus" zunehmend gebraucht, um ein System zu beschreiben, das mehr ist als eine bloße Mutation eines alten Themas. Die Betonung liegt auf der Flexibilität. Starre Formen der Bürokratie stehen unter Beschuß, ebenso die Übel blinder Routine. Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden. Die Betonung der Flexibilität ist dabei, die Bedeutung der Arbeit selbst zu verändern und damit auch die Begriffe, die wir für sie verwenden. "Karriere" zum Beispiel bedeutete ursprünglich eine Straße für Kutschen, und als das Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible Kapitalismus hat die gerade Straße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in einen anderen. Das Wort "job" bedeutete im Englischen des 14. Jahrhunderts einen Klumpen oder eine Ladung, die man herumschieben konnte. Die Flexibilität bringt diese vergessene Bedeutung zu neuen Ehren. Die Menschen verrichten Arbeiten wie Klumpen, mal hier, mal da. Es ist nur natürlich, daß diese Flexibilität Angst erzeugt. Niemand ist sich sicher, wie man mit dieser Flexibilität umgehen soll, welche Risiken vertretbar sind, welchem Pfad man folgen soll. Um den Fluch vom Begriff "Kapitalismus" zu nehmen, wurden im letzten Jahrzehnt viele Umschreibungen kreiert, wie "freies Unternehmertum" oder "marktwirtschaftliches System". Heute wird der Begriff Flexibilität in diesem Sinne gebraucht. Mit dem Angriff auf starre Bürokratien und mit der Betonung des Risikos beansprucht der flexible Kapitalismus, den Menschen, die kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingehen, statt der geraden Linie einer Laufbahn im alten Sinne zu folgen, mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten. In Wirklichkeit schafft das Regime neue Kontrollen, statt die alten Regeln einfach zu beseitigen - aber diese neuen Kontrollen sind schwerer zu durchschauen. Vielleicht der verwirrendste Aspekt der Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter. In der Geistesgeschichte bis zurück in die Antike gibt es kaum einen Zweifel an der Bedeutung des Wortes Charakter: es ist der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen. Horaz hat geschrieben, daß der Charakter eines Menschen von seinen Verbindungen zur Welt abhängt. In diesem Sinne ist Charakter ein umfassenderer Begriff als sein moderner Nachkomme, die Persönlichkeit, bei der es auch um Sehnsüchte und Gefühle im Inneren geht, die niemand anderes erkennt. Der Charakter konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung. Charakter drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen. Aus der wirren Vielfalt von Empfindungen, mit der wir alle uns jederzeit herumzuschlagen haben, wählen wir einige aus und versuchen sie aufrechtzuerhalten. Diese nachhaltigen Züge werden zum Charakter, es sind die Merkmale, die wir an uns selbst schätzen und für die wir den Beifall und die Zuwendung der anderen suchen. Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind die Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt (10-12).

Kommentar: In acht Kapiteln ("Drift. Wie persönliche Erfahrung in der modernen Arbeitswelt zerfällt"; "Routine. Ein Übel des alten Kapitalismus"; "Flexibilität. Die neue Strukturierung der Zeit"; "Unlesbarkeit. Warum moderne Arbeitsformen schwer zu durchschauen sind"; "Risiko. Warum Risiken auf sich zu nehmen verwirrend und deprimierend geworden ist"; "Das Arbeitsethos. Wie sich das Arbeitsethos gewandelt hat"; "Scheitern. Wie man mit dem Scheitern fertig wird"; "Das gefährliche Pronomen. Gemeinschaft als Mittel gegen Drift") untersucht Sennett, wie eine "Arbeitswelt voller Drehtüren" (151) den Menschen verändert. (Der Originaltitel seines Memorandums lautet: The Corrosion of Character). Die Frage, ob die neuen Wirtschaftsmethoden eine Verbesserung für die ‚Arbeitnehmer' - auf das Irreführende dieses Begriffs hat Andersch u.a. hingewiesen - mit sich bringen, beantwortet der Soziologe negativ: "In dieser konkurrenzgeprägten Szenerie räumen die Erfolgreichen den Spieltisch ab, während die Masse der Verlierer das Wenige teilt, was übrigbleibt. [...] Ohne ein bürokratisches System, das Wohlstandszuwächse innerhalb einer Hierarchie verteilt, streben die Gewinne zu den Mächtigsten; in regellosen Institutionen werden die, die in der Lage sind, alles zu nehmen, dies auch tun. Die Flexibilität verstärkt die Ungleichheit" (119). Der Zynismus des hire & fire kommt in dem Satz eines consultants zum Ausdruck: Sobald Angestellte "verstehen [daß sie sich nicht auf die Firma verlassen können], sind sie marktgängig" (29).
Sennett illustriert anhand von Fallgeschichten, welche gravierenden Auswirkungen - am schwerwiegendsten vielleicht die Zerstörung von familiären und freundschaftlichen Bindungen - das Dogma der Flexibilität auf den einzelnen hat. Ohne dem ‚alten Kapitalismus' das Wort zu reden, gelangt er zu dem Fazit, daß der kurzfristig agierende Kapitalismus von heute, beispielhaft verkörpert in der Figur Bill Gates', eine Katastrophe ist. (M.R.)