KULTURTHEORIEKULTURKRITIK
KRITISCHEKULTURTHEORIE
KOMMENTIERTEBIBLIOGRAPHIE
Geyer, Carl-Friedrich. 1994. Einführung in die Philosophie der Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Textauszug: Von der Philosophie als einer Orientierungswissenschaft sui generis zu sprechen ist angesichts des ungebrochenen idealistischen Erbes der Geisteswissenschaften eine zwar verständliche, aber doch auch offensichtliche Überforderung. Auf sie reagiert bezeichnenderweise eine Unterforderung, die gegenwärtig unter anderem in der sogenannten Kompensationstheorie ihren Ausdruck findet. Dadurch, daß diese die Geisteswissenschaften als ‚Akzeptanzwissenschaften' in den unterschiedlichen Modernisierungsprozessen nur zum Schein aufgehen läßt, sie aber in Wahrheit mit Legitimationsabsichten den von politisch-kulturellen Zwecksetzungen befreiten technokratischen Modernisierungen hierarchisch verordnet, wird die beschworene Orientierungsfunktion zu einem bloßen Wort. Wenn Kultur, reflexiv geworden, wesentlich darin besteht, innerhalb einer bestimmten Zivilisation - in diesem Falle der technisch-wissenschaftlichen - Grundorientierungen im Blick auf Identitätsbildung und Identitätsbewußtsein auszubilden, dann kann hinsichtlich der sich selbst in dieser Weise verstehenden Geisteswissenschaften nur von einer partiellen, und das heißt hier affirmativen Orientierung die Rede sein. Zwar machen sie die technisch-wissenschaftliche Welt dem Menschen im Sinne applaudierender Zustimmung verstehbar. Diejenigen Selbst- und Weltverhältnisse, die neben unmittelbarer Daseinsdeutung auch Maßstäbe der Kritik vorgeben, werden dabei jedoch ausgeblendet. Haben die Geisteswissenschaften mit dem Ende des logozentristischen Systemdenkens ihre Entscheidungskompetenz verloren, so verlieren sie in ihrer Reduktion auf simple Akzeptanzforschung zusätzlich auch ihre Urteilsfähigkeit. Es bleibt eine vage Wahrnehmungsfähigkeit. Noch W. Dilthey, einer der Begründer der modernen Geisteswissenschaften, betonte, daß diese die Erkenntnis dessen, was ist, mit derjenigen dessen, was sein soll, verknüpfen. Die aus dem Willen entsprungenen Ordnungen werden in diesen Wissenschaften nicht nur erkannt als das, was sie sind, sondern auch im Sinne ihrer Zwecke geregelt. Wahrheit und Falschheit genügen daher keineswegs als Kriterien geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Sie beschreiben lediglich Vorgegebenes, fragen aber nicht nach den jeweiligen normativen Absichten, die nach den Kriterien von richtig oder unrichtig beurteilt werden müssen. Hier steht Akzeptanz gegen Relevanz. Zwischen Hyperrationalisierung [die Geistes-'Wissenschaft'] einerseits und simpler Akzeptanz kontingenter Wirklichkeiten andererseits bezeichnet den Ort der Philosophie im Sinne solcher Orientierung die sowohl integrative wie grenzüberschreitende Analyse der Kultur, wobei "Kultur" für den Inbegriff aller menschlichen Arbeit [theoretischer wie praktischer Natur] sowie aller aus ihr ableitbaren Lebensformen steht. Die einzelnen Fachwissenschaften als Ergebnisse solcher Arbeit sind dabei selbstredend einzubeziehen. Nicht die erkenntnistheoretische oder wissenschaftsanalytische Begründung dieser Wissenschaften macht sie zum Gegenstand philosophischen Nachdenkens, sondern ihre Teilhabe an der kulturellen Form der Welt, das heißt der Weise, in der "Welt" überhaupt "gegeben" ist. (111-112)

Kommentar: Auf knapp 160 Seiten, zuzüglich 30 Seiten Anmerkungen sowie einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem Personenregister, bietet Geyer ein Kompendium der Reflexion über Kultur (vor allem) im 19. und 20. Jahrhundert. Dem komplexen ersten Teil, der unter den Überschriften "Zur Phänomenologie des Kulturbegriffs", "Problematisierungen: Zwischen konservativer Kulturkritik und Postmoderne" und "Kulturphilosophie als reformulierte Transzendentalphilosophie" in das Thema einführt, folgt ein "Positionen" betiteltes Kapitel, das "auf unterschiedlicher Ebene [den] Zusammenhang von Kultur und Kritik sichtbar" machen soll (3) - und dies auch leistet. In Einzeldarstellungen geht Geyer darin auf Franz Overbeck, Georg Simmel, Arnold Gehlen, Theodor W. Adorno, Peter Weiss, Pier Paolo Pasolini und Peter Sloterdijk ein; die thematische Spannweite umfaßt den "Gegensatz von Christentum und Kultur" ebenso wie den "Rekurs auf das Unbegriffliche" oder die Opposition "Ästhetizismus versus gesellschaftliche Praxis". Dem historischen Blick auf Positionen folgt die politische Diskussion von "'Kultur' im Kontext gegenwärtiger Selbst- und Weltverhältnisse": "Orientierung durch Philosophie?", "Das prognostizierte 'Ende der großen Entwürfe'", "Zum Stichwort 'Fundamentalismus' und "Anmerkungen zu Theorie und Praxis multikultureller Gesellschaften" lauten einige der von Geyer aufgegriffenen Themen. Der Schluß des Buches ist Überlegungen zu "Lebensorientierung und Handlungsnormierung im Kontext konkurrierender Kulturbegriffe" reserviert. Hier verweist der Autor noch einmal explizit auf das praktische Interesse, das Philosophie als ein "Diskurs auf der Grenze" verfolgt: "Es geht hier, wie in aller diskursiven Aufnahme der Wirklichkeiten, in denen wir leben, um die aristotelische Frage nach dem gelungenen Leben" (154).
Geyers Einführung in die Philosophie der Kultur, in der neben den oben Genannten, und zum Teil in größerem Umfang als diese, Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Jacob Burckhardt, Ernst Cassirer, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Friedrich Nietzsche, Heinrich Rickert, Max Weber, Martin Heidegger, Hans Blumenberg, Jean Baudrillard, Jürgen Habermas und andere zu Wort kommen, zeugt von stupender Sachkenntnis; sie ist in einem nüchtern-kritischen Ton abgefaßt, fair, dabei keineswegs neutral. Das Einzige, was sich dem Buch vielleicht vorwerfen läßt, ist, daß es für eine "Einführung" stellenweise einen zu hohen Schwierigkeitsgrad aufweist; doch die Scheu vor der Anstrengung des Lesens verbietet sich bei einem (potentiellen) Standardwerk wie diesem. (M.R).